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Rotarmisten in Österreich: Freier und Befreier  
  Als die Sowjetische Armee vor 60 Jahren den Osten Österreichs von den Nazis befreite, war sie Vielen nicht willkommen: Jahrhundertealte Negativbilder über die "Gefahr aus dem Osten" und die Nazi-Propaganda hatten dafür gesorgt, Übergriffe durch Rotarmisten schienen die Vorurteile zu bestätigen. Die Historikerin Barbara Stelzl-Marx zeichnet in einem dieser Tage erscheinenden Buch ein differenziertes Bild: Im Mittelpunkt steht dabei das Verhältnis der Russen zu den Frauen - und seine oft abschätzig "Russenkinder" genannten Folgen.  
"Russenkinder": Zwischen Tabuisierung und Stigmatisierung
Bild: AdBIK, Graz
Ein 21-jähriger sowjetischer Besatzungssoldat
war die erste Liebe dieser Wienerin
Von Barbara Stelzl-Marx

Gerade zu Kriegsende und in der ersten Nachkriegszeit waren die Soldaten der Sowjetischen Armee in Ostösterreich beinahe omnipräsent, dominierten das öffentliche Leben, drangen in die Privatsphäre ein und sahen - zumindest zu einem gewissen Teil - die Frau als Beute der Sieger.

Weniger bekannt ist hingegen, dass sich auch eine große Bandbreite erotischer Annäherungen zwischen Österreicherinnen und sowjetischen Besatzungssoldaten entwickelte, die von Flirts, Beziehungen für ab und zu oder die Dauer der Stationierung und - in Ausnahmefällen - bis hin zu Eheschließungen reichten.

Außerdem gab es jede Form von professioneller und halbprofessioneller Prostitution: "Überlebensprostitution", das Beschaffen von Lebensmitteln durch sexuelle Kontakte, stellte in dieser Zeit des Hungers eine wichtige Überlebensstrategie dar.
Sowjetischer Geheimdienst warnte Rotarmisten ...
Von sowjetischer Seite waren diese Kontakte alles andere als gern gesehen. Bereits im Juli 1945 kritisierte die Politische Abteilung der NKVD-Truppen Verhältnisse sowjetischer Offiziere mit österreichischen Frauen als "politisch folgenschwer" und die betroffenen Männer als "moralisch instabil".
... vor österreichischen Frauen
Die Österreicherinnen wurde als reale Gefahr gesehen, den "verzauberten" Soldaten militärische Geheimnisse zu entlocken: "Der Feind greift zu jeglicher Tücke, um das Vertrauen der Sowjetbürger zu gewinnen und sie zu 'akklimatisieren', er bietet Frauen an, die sich bemühen, unsere Soldaten zu 'verzaubern' und zu 'verwöhnen', mit ihnen intime Verhältnisse einzugehen, mit dem Ziel, ihr Vertrauen zu erlangen und auf diese Weise militärische Geheimnisse und Staatsgeheimnisse auszukundschaften und auch wenig stabile Elemente für ihre Netze anzuwerben."
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Zwei Bücher zur
"Roten Armee in Österreich"

Als Ergebnis eines dreijährigen Forschungsprojektes des BMBWK zur sowjetischen Besatzung Österreichs (Leitung: Stefan Karner, Koordination: Barbara Stelzl-Marx) liegen nun zwei Publikationen vor: Stefan Karner - Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945-1955. Beiträge und - gemeinsam mit Alexander Tschubarjan - ein Dokumentenband mit mehr als 900 Seiten ehemals geheimer Akten (Verlag Oldenbourg; 24,80 Euro).
->   BIK
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"Russenkinder": Besatzung und ihre Folgen
Bild: AdBIK, Graz
Die Tochter eines sowjetischen Besatzungssoldaten mit ihrer
österreichischen Mutter, 1948
Nichts desto trotz gingen aus den Liebesbeziehungen aber natürlich auch als Folge von Vergewaltigungen tausende "Besatzungskinder" hervor, deren sowjetische Väter bald nicht mehr greifbar oder bereits vor der Geburt absent waren.

Viele dieser so genannten "Russenkinder" wissen bis heute nicht, wer ihr leiblicher Vater ist oder kennen nicht mehr als einen russischen Vornamen und eine Region in der damaligen Sowjetunion als Herkunft.

Zudem trug und trägt die gesellschaftliche Stigmatisierung jener Österreicherinnen, die sich "auf einen Russen einließen", dazu bei, dass selbst bekannte Daten über den sowjetischen Besatzungssoldaten vor den Angehörigen verheimlicht wurden bzw. immer noch werden.
"Als Russenkind war ich das Letzte"
Der Terminus "Russenkind" war noch in den 1960er Jahren ein weit verbreitetes Schimpfwort unter Jugendlichen und Kindern, die diesen Begriff von ihren Eltern als Synonym für etwas besonders Verachtenswertes übernommen hatten, vielfach ohne genau zu wissen, was dahinter an Beleidigendem steckte.

So berichtet auch der im Februar 1947 geborene F. R., dass er als Sohn eines in Tulln stationierten Soldaten in den Häusern seiner Freunde unerwünscht war: "Als 'Russenkind' war ich das Letzte. Die Eltern meiner Freunde haben mich aus ihren Häusern hinausgejagt."

Die Gleichaltrigen aus dem Dorf griffen das von Erwachsenen abwertend eingesetzte Etikett "Russenkind" auf und verwendeten es als Schimpfwort, erinnert sich F. R.
Von NS-Propaganda geprägtes "Russenbild"
Bild: AdBIK, Graz
Die sowjetischen Besatzungssoldaten ließen sich gerne mit österreichischen Kindern fotografieren
und waren für ihre Kinderliebe bekannt.
Zwei Gründe macht F. R. dafür verantwortlich, dass "die Russen" - und somit auch sein Vater - im Ort insgesamt und im Elternhaus seiner Mutter im Speziellen nicht gerne gesehen waren: einerseits die Vergewaltigungen zu Kriegsende, andererseits der hohe Anteil an überzeugten "Nazis".

Es überrascht kaum, dass diese beiden Faktoren in einem Atemzug genannt werden: Schließlich bestätigten und verstärkten die Übergriffe die von den Nationalsozialisten propagierten rassistischen Feindbilder, die seit Jahrhunderten tradierten Negativbilder über die "Gefahr aus dem Osten" und die antikommunistische Stimmung zu Kriegsende.

In der kleinen Gemeinschaft des Dorfes, wo jeder jeden kannte und über alles Bescheid wusste, wurde dieses negative, von NS-Propaganda geprägte "Russenbild" außerdem auf jene österreichischen Frauen übertragen, die eine Beziehung mit einem Besatzungssoldaten hatten, und auf die Kinder, die daraufhin geboren wurden.
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Internationale Konferenz
Die Konferenz "Die Rote Armee in Österreich" findet von 27.- 29. April 2005 auf dem Schloss Schallaburg statt und wird vom Boltzmann-Institut, der Russischen Akademie der Wissenschaften, dem Land Niederösterreich und dem NÖ Institut für Landeskunde veranstaltet. Erstmals wird dabei in Österreich das sensible Thema der sowjetischen Besatzungszeit gemeinsam von österreichischen und russischen Historikern aufgearbeitet.
->   Das Programm (pdf-Datei)
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Überlebensstrategie und Tabuisierung
Trotz starker gesellschaftlicher Ressentiments stellten die freiwilligen Liebesverhältnisse mit Besatzungssoldaten mitunter eine zentrale Überlebensstrategie dar, die - abgesehen von wirtschaftlichen Vorteilen - gewissermaßen eine Rückkehr zu einem friedlichen Leben bildeten, aber auch einen Schutz vor Übergriffen durch andere Soldaten darstellten.

Auffallend ist, dass ursprüngliche Feindbilder und Ressentiments der Nachkriegszeit auch vor dem Hintergrund der besonders intensiv tradierten Vergewaltigungen durch Rotarmisten teilweise immer noch fest im kollektiven Gedächtnis verankert sind und Bereiche dieses emotional hoch besetzten Themas nach wie vor tabuisiert werden.
Neue Dimension des "Unbekannten Soldaten"
Auf der anderen Seite setzen sich Besatzungskinder und -enkel über ein jahrzehntelanges Frage- und Redeverbot hinweg, beseelt von dem Wunsch, die eigenen, vielfach von Mythen umwobenen Wurzeln zu finden.

Das von der österreichischen Bevölkerung beziehungsweise den sowjetischen Truppen vollkommen konträr rezipierte Denkmal des "Unbekannten Soldaten" am Wiener Schwarzenbergplatz erhält somit eine neue Dimension.

[22.4.05]
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Über die Autorin
Barbara Stelzl-Marx, Dr., stv. Leiterin des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung (BIK), Graz - Wien - Klagenfurt, Koordinatorin des Projektes "Die Rote Armee in Österreich".
->   BIK
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->   Österreich ist frei (Schallaburg)
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Gedenkjahr 2005
In loser Folge erscheinen in science.ORF.at redaktionelle Texte und Gastbeiträge zu dem Schwerpunkt "Gedenkjahr 2005". Bisher erschienen:

Fotos und Dokumente zur "Roten Armee in Österreich" (22.4.05)
Sieglinde Rosenberger: Geschichte als Projekt mit "Open End" (15.4.05)
Gedenkjahr 2005: Bücher zur Zeitgeschichte (15.4.05)
Austrofaschismus: Politischer Wille zur Umgestaltung (7.4.05)
Gedenkjahr: Widerstand an den Unis vor 60 Jahren (4.4.05)
Otto Urban: Vor 65 Jahren "endgültige" Liquidierung Österreichs (30.3.05)
Michael John: Neo-Mythologisierung der Zeitgeschichte (18.3.05)
Materieller und geistiger Wiederaufbau Österreichs (16.3.05)
Siegfried Mattl: Beglaubigte Geschichte (9.3.05)
Die ursprünglichen Pläne von "25 Peaces" (28.1.05)
->   2005.orf.at
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01.01.2010