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Österreichs Unis nach 1945 "selbstprovinzialisiert"  
  Durch die Nazis wurden große Teile der Intelligenz von den österreichischen Unis vertrieben, jedoch nach 1945 nicht wieder zurückgeholt. Für den Soziologen Christian Fleck von der Universität Graz trägt dies Züge einer Selbstprovinzialisierung, die bis in die 1970er Jahre nachgewirkt hat. Mindestens zwei Jahrzehnte lang verrichteten so "intellektuelle Minderleister" qualitätslose Wissenschaft, schreibt er in einem Gastbeitrag.  
Autochthone Provinzialisierung der Wissenslandschaft
Von Christian Fleck

Die Nazis hatten unter den Akademikern unvergleichlich mehr Anhänger und Parteigänger, daher war klar, dass es sehr schwierig sein würde, nach der Befreiung Österreichs das Universitätsleben wieder in Gang zu bringen. Tatsächlich übertraf die Entwicklung die schlimmsten Befürchtungen.

Und das kam so: Gesetzliche Bestimmungen und die anfänglich vor allem unter Studenten herrschende Stimmung erzwangen die Einleitung von Entnazifizierungsverfahren. Diese Verfahren wurden Ausschüssen von Universitätsprofessoren übertragen, die über ihre Kollegen zu urteilen hatten.
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Veranstaltung am 26. April
Zum Gedenkjahr 2005 präsentiert die Österreichische HochschülerInnenschaft der Uni Wien sieben Veranstaltungen zur Entwicklung Österreichs vor und nach 1945. Am 26. April, 19 Uhr, spricht Christian Fleck mit Juliane Mikoletzky von der TU Wien zum Thema "Die Provinzialisierung der österreichischen Wissenschaftslandschaft" (Uni Wien, Aula, Altes AKH, Hof 1).
->   60 Jahre Befreiung (ÖH)
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"Asymmetrische Diskretion" für Nazis
Die einzige Gruppe, die von diesen Kommissionen systematisch aus den österreichischen Universitäten entfernt wurde, waren die so genannten Reichsdeutschen, also Professoren, die nach 1938 berufen wurden.

In allen anderen Fällen funktionierte "asymmetrische Diskretion". Darunter muss man sich das (Zusammen-)Wirken folgender Faktoren vorstellen: In diesen Kommissionen saßen Leute, denen in den Jahren davor der eine oder andere Nazi geholfen hatte.

Zumindest glaubte die Mehrheit dieser Nichtbelasteten, dass sie ihr Überleben dem Wohlwollen einzelner Nazis zu verdanken hatte und diese fanden nach dem Ende ihrer Diktatur keinen Grund, diesen Mythos zu zerstören.
Akademie als besonderes Auffangbecken
Nach 1945 glaubten die vordem von den Nazis Benachteiligten - die selten Verfolgte waren - sich ihren "hilfsbereiten" Kollegen von früher dankbar erweisen zu müssen und stellten ihnen "Persilscheine" aus.

Und die ehemaligen (oder immer noch) Nazis kamen ihnen insofern entgegen, als sie beispielsweise in die katholische Kirche eintraten oder im Akademikerbund um Aufnahme ansuchten.

Bloß einige wenige sehr Belastete (oder sehr sture) Nazis mussten eine Zeit lang außerhalb der Universität Unterschlupf suchen, wobei die Österreichische Akademie der Wissenschaften hier eine besonders unrühmliche Rolle als Auffangbecken für diese Nazis spielte.
Verbündung gegen die Vertriebenen
Die Kameraderie derer, die vor dem Mai '45 benachteiligt wurden, mit jenen, denen nun ein vergleichbares Schicksal drohte, wurde auf dem Rücken jener ausgetragen, die nicht im Lande waren.

1938 mussten nicht nur Hunderte Professoren ihre Stellen räumen, sondern es emigrierten auch viele Tausende, die es vor ihrer Flucht nicht zu einer Stelle an einer österreichischen Universität gebracht hatten.
Rückberufungswünsche, die ignoriert wurden
Erstere hätten einen Rechtsanspruch auf Wiedereinsetzung in ihre alten Stellen gehabt, aber sie wussten das nicht und die wenigen, die sich erkundigten, wurden beschwindelt. Und die, die nie eine Stelle hatten, hatten nun auch keinen Anspruch auf eine.

Eine Initiative von ehemaligen österreichischen Professoren, die sich in New York zur Austrian University League zusammengeschlossen hatten, forderte vom Unterrichtsministerium, das auch damals für die Universitäten zuständig war, eine Universitätsreform und die (Rück-)Berufung von Gegnern des Naziregimes.

Der Minister und seine Beamten reagierten darauf mit der Haltung des "net amal Ignorierens."
Rückkehr auch für Emigranten schwer möglich
Allerdings muss man bedenken, dass selbst wenn in diesen Fällen das offizielle Österreich anders agiert hätte, dennoch nur wenige Emigranten zurückgekommen wären.

Zum einen hatten viele Emigranten das Straßenputzen mit Zahnbürsten und andere Schikanen noch nicht vergessen und verspürten daher kein Bedürfnis, nach Österreich zurück zu kommen.

Die Jüngeren unter den Emigranten hatten sich oft trotz der kurzen Zeit in der neuen Umgebung erfolgreich integriert, geheiratet und Kinder bekommen - die Älteren waren oft schon zu alt und die materiellen Bedingungen in Österreich drastisch schlechter als in den meisten Ländern, in denen die Emigranten Zuflucht gefunden hatten.
Wenn, dann aus politischen Motiven
Wer nach Österreich zurückkehren wollte, tat das, weil er politische Motive hatte oder im Ausland nicht Fuß fassen konnte. Daher überwogen unter den Rückkehrern ehemalige Anhänger des Ständestaates und Kommunisten, die am Aufbau eines "Neuen Österreich" mitwirken wollten.
Zwei Jahrzehnte Karriere aus unlauteren Gründen
Zwei Folgen kennzeichneten für lange Zeit die österreichischen Universitäten. Jeder Professor der ersten zwei Dekaden der Zweiten Republik musste wissen, dass er zum einen oder anderen Zeitpunkt seiner Karriere aus unlauteren Gründen erfolgreich war oder in seiner Position verbleiben durfte, obwohl es auch anders sein hätte können - das hatte Konsequenzen für die Ernsthaftigkeit, mit der in "Einsamkeit und Freiheit" wissenschaftlich geforscht wurde.
Ergebnis: Qualitätslose Wissenschaft und ...
Wenn es schon einmal nicht davon abhing, was man wissenschaftlich geleistet hatte, sondern welcher religiösen oder politischen Gruppe man angehörte oder gar wem man verpflichtet war, dann fehlte der nötige Ernst und die Überwindung der eigenen Trägheit und heraus kam nicht qualitätsvolle Wissenschaft, sondern meist gar nichts.

Zum anderen verließen die intellektuell Neugierigeren das Land so rasch wie möglich. Österreich wurde dadurch zum zweiten Mal zum Exporteur intellektueller Rohdiamanten. Während 1938 Juden und andere Systemgegner vertrieben wurden, liefen nach 1945 die Absolventen freiwillig davon.
... intellektuelle Minderleister bis in die 70er Jahre
Zurück blieben intellektuelle Minderleister und politische Opportunisten. Und da Professoren langlebig sind und damals erst mit 70 emeritiert wurden, dauerte es bis in die 1970er Jahre bis dem Nazi-Spuk ein Ende bereit wurde - an die Macht kamen damals die Schüler dieser gebrochenen Charaktere.

[25.4.05]
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Über den Autor
Christian Fleck ist Ao. Prof. am Institut für Soziologie der Universität Graz.
->   Christian Fleck
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Gedenkjahr 2005
In loser Folge erscheinen in science.ORF.at redaktionelle Texte und Gastbeiträge zu dem Schwerpunkt "Gedenkjahr 2005". Bisher erschienen:

Barbara Stelzl-Marx: "Russenkinder" zwischen Tabuisierung und Stigmatisierung (22.4.05)
Sieglinde Rosenberger: Geschichte als Projekt mit "Open End" (15.4.05)
Austrofaschismus: Politischer Wille zur Umgestaltung (7.4.05)
Gedenkjahr: Widerstand an den Unis vor 60 Jahren (4.4.05)
Otto Urban: Vor 65 Jahren "endgültige" Liquidierung Österreichs (30.3.05)
Michael John: Neo-Mythologisierung der Zeitgeschichte (18.3.05)
Materieller und geistiger Wiederaufbau Österreichs (16.3.05)
Siegfried Mattl: Beglaubigte Geschichte (9.3.05)
Die ursprünglichen Pläne von "25 Peaces" (28.1.05)
->   2005.orf.at
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01.01.2010