News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 
Die Gedankenlesemaschine  
  Einst reine Fiktion, nun an der Schwelle zur Realität: Gedankenlesen durch eine Maschine. Japanische Forscher haben mittels bildgebender Verfahren Hirnsignale entschlüsselt, die bei einfachen visuellen Wahrnehmungen auftreten. Damit kann nicht nur vorhergesagt werden, was ein Mensch sieht, sondern auch, was er gerade sehen will.  
Mit einer ganz ähnlichen Methode haben nun britische Forscher das Meer des Unbewussten durchleuchtet: Sie dechiffrierten in einer zeitgleich veröffentlichten Studie jene Signalspuren, die nicht bewusste visuelle Wahrnehmungen im Gehirn hinterlassen.
...
Die Studie "Decoding the visual and subjective contents of the human brain" von Yukiyasu Kamitani und Frank Tong erschien als "Advanced Online Publication" im Fachjournal "Nature Neuroscience" (doi:10.1038/nn1444).
->   Zum Abstract der Studie
...
Sich ein Bild vom Denken machen
Mit den so genannten bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaft lassen sich Aktivitätsmuster von Nervenzellen sichtbar machen. Das ist im Prinzip nicht aufregender als das gute alte Röntgenbild, mit dem man schon lange in das Innere des Körpers blicken kann.

Spannend wird das "Neuroimaging" indes, wenn man es in Beziehung zu Denkvorgängen setzt. Mit der so genannten funktionellen Kernspintomographie (fMRI) kann man etwa beobachten, was im Gehirn passiert, wenn eine Person etwas wahrnimmt oder eine Handlung in Gang setzt.

Kann man damit von "außen" bestimmen, was "innen", also in der Gedankenwelt des Probanden vor sich geht?
Die Erste-Person-Perspektive
Ja und Nein. Das Standardargument dagegen lautet folgendermaßen: Bildgebende Methoden mögen noch so leistungsfähig sein, die Perspektive der ersten Person werden sie niemals ersetzen können.

Die berühmteste Formulierung dieses Einwands stammt vom Wissenschaftsphilosophen Thomas Nagel, der im Jahr 1974 die - rhetorische - Frage stellte: "Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?"

Seine Antwort: Wir werden es niemals wissen. Um zu erfahren, wie es sich "anfühlt", sich etwa mittels Ultraschall-Echopeilung zu orientieren, müssten wir schon selbst Fledermäuse sein. Und das sind wir nicht. Punkt, Ende der Debatte.
->   What is it like to be a bat?
Signale und Bedeutung: Wörterbuch gesucht
Allerdings wollte auch nie jemand ernsthaft in die Empfindungswelt eines geflügelten Säugetieres schlüpfen. Neurowissenschaftler gäben sich vermutlich schon dann zufrieden, wenn sie anhand von Aktivitätsmustern im Gehirn verlässlich auf den Inhalt der Gedanken schließen könnten.

Damit könnte man zwar noch immer nicht erfahren, wie sich Vorgänge in einem fremden Hirn anfühlen, aber man könnte zumindest sagen, was sie bedeuten. Dazu bräuchte es allerdings eine Art Wörterbuch bzw. eine Übersetzungsmaschine, die angibt, welches Signal welcher Empfindung entspricht.
Subjektive Wahrnehmung von "außen" abgelesen
Genau so etwas haben nun Yukiyasu Kamitani von den ATR Computational Neuroscience Laboratories, Kyoto, und Frank Tong von der Princenton University in ihrer aktuellen Studie vorgestellt:

Sie ließen Probanden Streifenmuster acht verschiedener Orientierungen betrachten und zeichneten die Gehirnaktivität in verschiedenen visuellen Arealen mittels fMRI auf.

Mit diesen Daten fütterten sie ein Programm, das die Signale im Gehirn anhand statistischer Eigenheiten zu unterscheiden lernte. Damit konnten die Forscher dann vorhersagen, welches Streifenmuster von den Probanden gerade betrachtet wurde.
Aufmerksamkeit wird sichtbar
Bild: Nature Neuroscience
Soweit wies das automatische Wörterbuch von Kamitani und Tong noch einen eher bescheidenen Umfang auf. Es beinhaltete gerade mal acht Vokabel, und noch dazu keine besonders spektakulären: Ähnliche Empfindungen werden sich im Alltag zwar einstellen, wenn man eine gestreifte Tapete betrachtet, der Höhepunkt des menschlichen Denkens ist das freilich nicht.

Die beiden Neurowissenschaftler fügten ihrer Versuchsreiche allerdings noch ein wichtiges Ingrediens hinzu. Sie wiesen die Versuchspersonen an, ein Muster überkreuzter Linien zu betrachten und sich dann bewusst auf eine der beiden Gruppen paralleler Linien zu konzentrieren (Bild rechts).

Auch dieser willentliche Schwenk auf eines der beiden alternativen Muster wurde vom automatischen Wörterbuch erkannt. Das heißt, es konnte auch der "geistige Scheinwerfer" der Aufmerksamkeit sichtbar gemacht werden. Womit Kamitani und Tong dem "Gedankenlesen" via Neuroimaging eindeutig näher gerückt sind.
Blick ins Unbewusste
Mit einem ganz ähnlichen Verfahren nahmen nun John-Dylan Haynes und Geraint Rees vom University College London die Sphäre des Unbewussten unter die Lupe: Sie präsentierten ihren Probanden ebenfalls verschiedene Streifenmuster, variierten allerdings den Zeitfaktor.

Das erste Bild wurde nämlich nur 15 Millisekunden eingeblendet - zu kurz, um in das Bewusstsein der Testperson vorzudringen. Bewusst wahrgenommen wurde nur das zweite, länger präsentierte Muster.

Trotzdem waren Haynes und Rees imstande, auch die Spuren von Bild Nummer eins an fMRI-Daten abzulesen und einem bestimmten Streifenmuster zuzuordnen.

Sie konnten die Probanden also darüber aufklären, was sie - ohne es zu wissen - erblickt hatten. Das beweise, dass das untersuchte Hirnareal - der primäre visuelle Cortex - "etwas kodiert, was wir gar nicht sehen", wie Haynes gegenüber dem Magazin "New Scientist" betont.
Bewusstsein messen?
Haynes möchte in Zukunft die weitere Verarbeitung dieser Signale bis zu höheren kognitiven Ebenen verfolgen und feststellen, an welchem Punkt das Bewusstsein auf den Plan tritt.

Dieses Wissen könnte, so seine Vermutung, dereinst zum Bau eines "Bewusstsein-o-Meters" genützt werden: "Eine Maschine, mit der wir feststellen können, ob ein Patient seine Umwelt wirklich bewusst wahrnimmt."

Robert Czepel, science.ORF.at, 26.4.05
...
Die Studie "Predicting the orientation of invisible stimuli from activity in human primary visual cortex" von John-Dylan Haynes und Geraint Rees erschien als "Advanced Online Publication" im Fachjournal "Nature Neuroscience" (10.1038/nn1445).
->   Zum Abstract der Studie
...
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Gehirn-Scan als Lügendetektor (30.11.04)
->   Wo der Traum wohnt (10.9.04)
->   Verdrängung erstmals neurobiologisch bewiesen (8.1.04)
->   Wie entsteht die Welt im Kopf? (17.7.02)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010