News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Europäische Geschichte(n)  
  60 Jahre nach Kriegsende dominieren in Europa nach wie vor getrennte ost- und westeuropäische Erzählungen der Geschichte. Von einer "Meistererzählung", die alle unterschiedlichen Perspektiven umfasst, ist man auch im Europa der Integration noch weit entfernt, schreibt Klaus Nellen vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen in einem Gastbeitrag.  
Auf dem Weg zur Meistererzählung?
Von Klaus Nellen

In der Regel verblassen Gedenktage im Laufe der Zeit, bis sie schließlich ad acta gelegt oder von neuen Erzählungen überschrieben werden. Der Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, der 8. bzw. 9. Mai, zeigt eine entgegengesetzte Dynamik: Es scheint, dass er noch nie soviel Gewicht hatte wie heute, 60 Jahre nach dem Ereignis.

Das Datum stellt den zentralen Bezugspunkt für die über Jahrzehnte dominierenden Narrative der Siegermächte und die Gründungsmythen der europäischen Nachkriegsgesellschaften dar: Für die betroffenen Länder markierte es einen Bruch und Neubeginn, für die USA und Sowjetunion eine Legitimationsquelle für ihre konkurrierenden hegemonialen Ansprüche und damit den Anfang des Kalten Krieges.
...
Im Online-Kulturmagazin "Eurozine" ist soeben ein Schwerpunkt zum Thema "Europäische Geschichten" erschienen. Er geht von dem exemplarischen Charakter dieses Gedenktages für die Zukunft des neuen Europa aus und präsentiert Ausschnitte aus einer Debatte, die im Begriff ist, die nationalen Grenzen der Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur zu überschreiten.
->   Eurozine Schwerpunkt "Europäische Geschichten"
...
Neubewertung der "Stunde Null" nach Sowjet-Ende
Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums und damit der bipolaren Ordnung, und in der Folge die Osterweiterung haben die eingespielten Interpretationen der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte radikal in Frage gestellt - sowohl in West- als auch in Osteuropa, und zwingen dazu, die "Stunde Null" neu zu bewerten.

Zugleich zeichnet sich eine Internationalisierung des Gedenkens ab, wie der Soziologe Andreas Langenohl von der Uni Gießen in seinen Überlegungen zeigt.
->   Andreas Langenohl: Staatsbesuche
Der 8. Mai und die Europäische Union
Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs ist konstitutiv für die Entstehung der Europäischen Union. Die alten Erzfeinde sollten versöhnt und in eine Interessengemeinschaft eingebunden werden, die einen neuen Krieg unmöglich machen würde.

Zugleich beruhte der Erfolg dieser Gemeinschaft auf der Anerkennung der Teilung Europas, mit der die andere Hälfte des Kontinents abgeschrieben und von den Segnungen Demokratie, Frieden und wirtschaftlichem Aufschwung ausgeschlossen wurde.
Verschiedene Erfahrungen in Ost und West
Der komfortable historische Konsens, den die westeuropäischen Gesellschaften schon lange gefunden hatten, ist spätestens mit der Osterweiterung fragwürdig geworden.

Denn 1945 hat "eine völlig andere Bedeutung" in fast ganz Osteuropa, für fast alle Bürger jener Länder, die der Union 2004 beitraten. Für sie bedeutet 1945 den Übergang von einer Besatzungszeit zur nächsten, von der Naziherrschaft zur Sowjetherrschaft", so der Historiker Timothy Snyder in einem Beitrag.
->   Timothy Snyder: Vereintes Europa, geteilte Geschichte
Kollaboration oder Widerstand?
Zugleich ist diese andere Bedeutung ihrerseits nicht eindeutig: In den meisten ehemaligen Satellitenstaaten bzw. Sowjetrepubliken entzündeten sich mit dem Zusammenbruch der auferlegten offiziellen Geschichtsdoktrin heftige, bis heute offene Kontroversen um die Re-Interpretation der eigenen Geschichte, die entscheidend sein werden für die Herausbildung neuer nationaler Identitäten.

Man denke etwa an die baltischen Länder: Was aus der einen Perspektive Kollaboration war, ist aus der anderen Widerstand gewesen.
Gesamtdarstellung der Geschichte Europas nötig
Wie Snyder zeigt, wird es für die erweiterte EU - als Voraussetzung für ihren Zusammenhalt - wichtig sein, ein historisches Bewusstsein zu entwickeln, das den Neuankömmlingen einen angemessenen Platz verschafft und sie in eine breite Diskussion einbindet.

Was heute offensichtlich fehlt, ist eine übergreifende Darstellung der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts - hier ist die Union nach wie vor gespalten und viele der neu hinzugekommenen Gesellschaften noch innerlich zerrissen.
Der 9. Mai und Russland
Russland war der Hauptsieger im Zweiten Weltkrieg und ist der große Verlierer von 1989. Mit seinem Festhalten am Mythos des Großen Vaterländischen Kriegs - der letzten noch nicht diskreditierten sowjetischen Errungenschaft - schreibt es die Ordnung von Jalta fort.

Der russische Soziologe Lev Gudkov zeigt, welche Funktion dieser Mythos darüber hinaus als Quelle des nationalen Selbstbewusstseins und der Legitimität "der zentralisierten und repressiven sozialen Ordnung" hat.
->   Lev Gudkov: Russlands Identität aus der Erinnerung an den Sieg
Historische Kontinuität der russischen Politik
Wenn sich am 9. Mai auf Einladung des russischen Präsidenten die höchsten politischen Vertreter der ehemaligen Alliierten bzw. der betroffenen Länder in Moskau treffen, um des Sieges vor 60 Jahren zu gedenken, werden viele Gäste sich mit einer Interpretation der Geschichte konfrontiert sehen, die sich kaum mit ihrer eigenen Sichtweise versöhnen lässt.

Putins Rhetorik machte schon anlässlich seines Auschwitz-Besuchs deutlich, dass er eine historische Kontinuität konstruieren will, die den sowjetischen Mythos restauriert und in eine Linie mit der imperialen russischen Geschichte und dem globalen Kampf gegen den Terrorismus bringt. Diesem Programm wird auch die Inszenierung in Moskau folgen.
Weiter Warten auf die "Meistererzählung"
"Bis heute wirkt das Tabu, die Kehrseiten des Sieges aufzuarbeiten," schreibt Gudkov. Es scheint noch ein weiter Weg, bis sich die russische Darstellung des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen mit jenen der - befreiten oder besetzten? - Nachbarn versöhnen lässt.

Von einer für alle verbindlichen "Meistererzählung" des Zweiten Weltkriegs sind die Europäer noch weit entfernt - wenn sie denn überhaupt erstrebenswert ist.

Sehr viel wäre bereits gewonnen, wenn die Pluralität der bestehenden Geschichten in einen gemeinsamen, den nationalen Rahmen überschreitenden öffentlichen Raum gestellt und diskutiert würde.

[5.5.05]
...
Über den Autor
Klaus Nellen ist Chefredakteur der Zeitschrift "Transit-Europäische Revue", eine der Gründungszeitschriften von "Eurozine", und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.
->   IWM
...
->   Transit
...
"Eurozine" ist ein Netzwerk europäischer Kulturzeitschriften, das es sich zum Ziel gesetzt hat, die wichtigsten Artikel zur europäischen Kultur und Politik zu präsentieren. Über 50 Kulturmagazine aus 32 europäischen Ländern sind Mitglieder. Neben Originalbeiträgen veröffentlicht "Eurozine" auch die wichtigsten Artikel der Partnerzeitschriften - mit Übersetzungen in eine der "großen" europäischen Sprachen.
->   Eurozine
...
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010