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50 Jahre Staatsvertrag: Der Blick der Sowjetunion  
  Vor fünfzig Jahren wurde der österreichische Staatsvertrag unterzeichnet. Welche internationalen Strategien dazu geführt haben und welche Rolle er für die nationale Identität spielt, beleuchtet ab Sonntag eine internationale Konferenz in Wien. Wolfgang Mueller, Historiker an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Koordinator der Staatsvertragskonferenz, zeichnet vorab in einem Gastbeitrag ein Bild der Österreich-Politik der damaligen Sowjetunion.  
Die sowjetische Österreich-Politik 1945-55
Von Wolfgang Mueller

Die Österreich-Politik Stalins nach 1945 war von mehreren Faktoren bestimmt: Erstens war Österreich, wie in der Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 von den Alliierten vereinbart, als unabhängiger Kleinstaat wieder zu errichten.

Dadurch sollte einerseits Deutschland, für das der Anschluss aus sowjetischer Sicht eine massive Stärkung des Wirtschafts- und Militärpotenzials bedeutet hatte, geschwächt werden.

Andererseits sollte dadurch auch die Gründung eines starken antisowjetischen Staatenbundes in Mitteleuropa verhindert werden, wie er Churchill vorschwebte.
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ÖAW-Konferenz
Anlässlich des 50. Jahrestages des österreichischen Staatsvertrages findet die internationale Konferenz der ÖAW "Der österreichische Staatsvertrag zwischen internationaler Strategie und nationaler Identität" vom 8. bis 11. Mai in Wien statt.
->   Programm (PDF)
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Hoffnung auf "friedlichen Übergang zum Sozialismus" ...
Zweitens strebte die Sowjetunion danach, ihren Einfluss in dem neuen Kleinstaat Österreich auszuweiten und zu festigen. Österreich wurde, da es ja von allen Alliierten gemeinsam besetzt werden sollte, zwar von den sowjetischen Planern nicht in den Kernbereich der sowjetischen Einflusssphäre einbezogen.

Stalin erwartete aber, dass Briten und Amerikaner ihre Truppen innerhalb weniger Jahre nach Kriegsende vom europäischen Kontinent zurückziehen würden, und er setzte daher auf die langfristige, aber auch langsame Strategie des "friedlichen Überganges zum Sozialismus".

Die Mittel zu diesem Zweck waren die Gründung einer Volksfrontregierung mit starker kommunistischer Beteiligung und die Aufnahme möglichst enger politischer und wirtschaftlicher Kontakte mit Österreich.
... wurden durch die Wahlen 1945 enttäuscht
Stalins Erwartungen sollten enttäuscht werden: Der kommunistische Anteil an der österreichischen Regierung schrumpfte nach den Wahlen vom 25. November 1945 auf ein Minimum, die österreichisch-sowjetischen Beziehungen entwickelten sich nicht zu jener erdrückenden "Umarmung" Österreichs durch den großen Bruder im Osten und die Westmächte machten keinerlei Anstalten abzuziehen.
Das Dilemma von 1946/47
Im Hinblick auf den Staatsvertrag geriet die Sowjetunion bereits 1946/47 in ein Dilemma. Einerseits würde sie einen Rückzug der Westmächte aus Österreich nur erreichen, indem sie selbst ebenfalls abzog.

Andererseits bildeten die sowjetischen Truppen in Österreich aufgrund der Friedensverträge mit Ungarn und Rumänien auch die internationale Rechtsgrundlage für die sowjetischen Truppenstationierungen in Südosteuropa, woran die UdSSR überaus interessiert war.

Außenminister Molotov lehnte daher 1946 ab, über den Staatsvertrag auch nur zu verhandeln. Nachdem die Verhandlungen Anfang 1947 begonnen hatten, stellte er in einer Geheimbesprechung fest, dass "der Vertrag mit Österreich sicher nicht dieses Jahr unterzeichnet wird".
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Kommende Woche wird die "sowjetische Perspektive" durch jene der USA ergänzt. Der Historiker Günter Bischof schildert dann in einem weiteren Gastbeitrag eine besondere Episode der Staatsvertragsverhandlungen aus US-Sicht: den so genannten "Kurzvertrag von 1952".
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KPdSU wollte keine Spaltung Österreichs
Während die sowjetische Führung somit zwar zu verhandeln begann, aber keinen raschen Abschluss erwartete, erschien eine Option für sie eindeutig inakzeptabel: eine Teilung Österreichs nach deutschem Muster. Konzepte dazu waren unter österreichischen Kommunisten angedacht worden. Anfang 1948 lehnte die KPdSU, wie neu entdeckte russische Akten belegen, dieses Szenario ab.

Eine Spaltung des Landes konnte nicht im sowjetischen Interesse liegen, wollte man nicht das strategisch wichtigere West-Österreich den Westmächten überantworten.

Überdies musste der sowjetischen Führung bewusst sein, dass die sowjetische Zone Österreichs aufgrund ihrer Lage, Größe, Bevölkerungszahl und Wirtschaftsstruktur von sowjetischer Unterstützung abhängig sein würde, was ebenfalls ihren Interessen widersprach.
Auf und Ab von 1948 und 1949
Ob die UdSSR 1948 bereit gewesen wäre, aus Österreich abzuziehen, muss hypothetisch bleiben, da die Staatsvertragsverhandlungen im Mai von den Westmächten aufgrund der von ihnen abgelehnten jugoslawischen Gebietsansprüche an Österreich abgebrochen wurden.

Nach ihrer Wiederaufnahme Anfang 1949 entstand auf österreichischer und westlicher Seite der Eindruck, dass ein Abschluss des Staatsvertrages noch vor Jahresende möglich sein werde. Vor dem Hintergrund des Streits zwischen Stalin und Tito gab die UdSSR die Unterstützung der jugoslawischen Gebietsforderungen auf.

In der Frage des "sowjetischen Eigentums" in Österreich (u.a. die DDSG, die heutige OMV und die so genannten USIA-Betriebe) einige man sich auf eine Ablösesumme von 150 Millionen Dollar, die von Österreich an die UdSSR zu zahlen sei. Die DDSG und 60 Prozent der Erdölproduktion und -vorkommen sollten in sowjetischem Besitz bleiben.
Zwei Jahre dauernder Dornröschenschlaf
Diese Einigung führte auf österreichischer Seite geradezu zu einer Staatsvertragseuphorie, doch als die wichtigsten Fragen gelöst waren, wurde klar, dass Stalin nicht (mehr) zur Unterschrift bereit war.

Neuerlich fürchtete die Sowjetunion, durch einen Abzug aus Österreich ihre Position in Osteuropa zu schwächen. Angesichts immer neuer von den sowjetischen Verhandlern errichteter Hindernisse verfielen die Staatsvertragsgespräche in einen zwei Jahre dauernden Dornröschenschlaf.
Junktim von Österreich- und Deutschland-Frage
Stalin soll zwar kurz vor seinem Tod bereit gewesen sein, den Staatsvertrag zu regeln, doch erschien 1952 die Frage der deutschen Wiedervereinigung wichtiger als jene Österreichs. Zu Jahresbeginn lehnte die UdSSR neue Verhandlungen über Österreich und im August auch den von den Westmächten lancierten Kurzvertrag ab.

Das Junktim zwischen der Österreich- und der Deutschland-Frage und die Taktik, den Staatsvertrag als Trumpfkarte erst für die allerletzte Minute aufzubewahren, um eine der UdSSR genehme Lösung für Deutschland zu erzielen, wurde von Stalins Nachfolgern zwei Jahre lang pflichtschuldig beibehalten und erst Ende März/Anfang April 1955 aufgegeben.
Tauwetter 1953
Die neue sowjetische Führung sandte zwar bereits im Frühling 1953 Entspannungssignale aus (das so genannte "Tauwetter"), doch nach dem Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953, der die sowjetische Position in Mitteleuropa als überaus instabil erscheinen ließ, dürften die Chancen auf einen sowjetischen Truppenabzug aus Österreich wieder gesunken sein.

Die Stationierung sowjetischer Truppen in Österreich bzw. deren Rückkehrrecht auch nach dem Abschluss des Staatsvertrages blieben weiterhin eine Hauptforderung der UdSSR. Dieses Anfang 1954 von Molotov in der Berliner Konferenz gemachte Angebot war aber für Österreich und den Westen inakzeptabel.
Grundlegende Änderungen 1955 ...
Ende 1954/Anfang 1955 ergaben sich einige grundlegende Änderungen, die sich für die sowjetische Haltung zum Staatsvertrag als entscheidend erweisen sollten. Frankreich stimmte dem NATO-Beitritt der BRD zu, der schließlich am 5. Mai erfolgte. Damit war das deutsch-österreichische Junktim hinfällig.

Dafür konnte die UdSSR nunmehr durch eine Staatsvertragsunterzeichnung hoffen, Deutschland das "österreichische Modell" (Neutralität, Wiedervereinigung, Souveränität) schmackhaft zu machen.
... und Generationswechsel an der Sowjet-Spitze
Gleichzeitig stellte sich die Sowjetunion selbst auf die Gründung eines eigenen Militärbündnisses, des Warschauer Paktes, ein, der am 14. Mai unterzeichnet wurde und u. a. Polen, Ungarn und Rumänien umfasste.

Damit wurde gewährleistet, dass die sowjetische Armee bei ihrem Abzug aus Österreich nur um einige hundert Kilometer ostwärts verlegt werden musste.

Schließlich bedurfte es auch eines Generationswechsels an der sowjetischen Spitze: Nikita Chrustschow war der neue starke Mann, der sich aus Stalins Schatten zu lösen, den sowjetischen Rückzug zu verantworten und einen neuen außenpolitischen Kurs einzuschlagen bereit war.

[6.5.05]
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Über den Autor
Wolfgang Mueller ist Historiker an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Koordinator der Staatsvertragskonferenz der ÖAW. Sein Buch "Die sowjetische Besatzung in Österreich 1945-1955 und ihre politische Mission" erscheint im Herbst 2005 im Böhlau-Verlag (Bild links). Mueller ist Mitherausgeber der Dokumentenedition "Sowjetische Besatzungspolitik in Österreich: Dokumente aus russischen Archiven", die im Herbst 2005 im Verlag der ÖAW erscheint.
->   Historische Kommission der ÖAW
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->   http://www.boehlau.at
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Gedenkjahr 2005
In loser Folge erscheinen in science.ORF.at redaktionelle Texte und Gastbeiträge zu dem Schwerpunkt "Gedenkjahr 2005". Bisher erschienen:

Neues Buch über das "Russendenkmal" in Wien (6.5.05)
Peter Filzmaier: Opferkult und Neutralität als Geschichtsmythen in Österreich (2.5.05)
Aleksandr Cubarjan: Die UdSSR und Österreich in der Nachkriegszeit (27.4.05)
Christian Fleck: Österreichs Unis nach 1945 "selbstprovinzialisiert" (25.4.05)
Barbara Stelzl-Marx: "Russenkinder" zwischen Tabuisierung und Stigmatisierung (22.4.05)
Fotos und Dokumente zur "Roten Armee in Österreich" (22.4.05)
Sieglinde Rosenberger: Geschichte als Projekt mit "Open End" (15.4.05)
den Unis vor 60 Jahren (4.4.05)
Michael John: Neo-Mythologisierung der Zeitgeschichte (18.3.05)
Siegfried Mattl: Beglaubigte Geschichte (9.3.05)
->   2005.orf.at
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01.01.2010