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China: Mangelnde Ethik bei klinischen Versuchen  
  Biotechnologie gilt als einer der Boom-Sektoren in China. Nicht zuletzt massive Investitionen seitens des Staates ließen die moderne medizinische Forschung aufblühen. Nach der - auch von "westlichen" Firmen getragenen - Euphorie weisen nun erste Berichte auf die Schattenseiten hin: Lückenhafte und nur halbherzig respektierte Ethik-Standards machen Menschen zu uninformierten Versuchskaninchen.  
Konkret geht es um einen nun bekannt gewordenen Fall in der zentralchinesischen Provinz Henan, wo sich 15 Patienten beschwert haben, dass an ihnen ein HIV-Medikament mit schweren Nebenwirkungen getestet wurde, ohne dass sie "informiert" ihre Zustimmung gegeben hätten.
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Aufgegriffen wurde der Fall vom Fachmagazin "Nature", das in seiner Ausgabe vom 12. Mai 2005 den Artikel "Consenting adults? Not necessarily ..." veröffentlicht hat (Band 435, S. 138f.).
->   Zum Original-Artikel (kostenpflichtig)
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Avantgarde der medizinischen Forschung?
Im Oktober 2003 war die Euphorie groß: China war das erste Land der Erde, in dem Gentherapie zur Behandlung einer speziellen Krebsart zugelassen wurde. Dass ausgerechnet China zur Avantgarde in der medizinischen Forschung aufstieg, wurde damals von offiziellen Stellen mit drei Gründen erklärt:

Erstens haben viele tausende Menschen keine Möglichkeit für eine regelmäßige Behandlung in einem Krankenhaus, weshalb schnell wirkende Medikamente gefragt sind. Zweitens ist China ein riesiges Land, was für die Forschung bedeutet, dass sich unter den rund 1,2 Milliarden Chinesen für beinahe jede Krankheit relativ unkompliziert Testpersonen finden. Und drittens gelten die chinesischen Behörden als technologie-freundlicher als jene in den USA oder Europa.
"Schwacher" Nachweis reicht für Zulassung
Aber schon damals wurden auch die niedrigen Standards kritisiert. Für die Zulassung der Gentherapie beispielsweise wurde ein Nachweis von 120 klinischen Erfolgen erbracht. In den USA wurden schon mehrere hundert Personen mit dem gleichen Ansatz behandelt, allgemein zugelassen ist er aber noch immer nicht.

Einen weiteren Kratzer erhält das Bild des Biotech-Boom-Landes China nun durch Berichte über fehlende ethische Standards. Konkret entzündet hat sich die jüngste Kritik an einem Vorfall in der zentralchinesischen Provinz Henan.
"Informierte Zustimmung" vernachlässigt
In Henan wurden noch in den 1990er Jahren hunderte Menschen durch unhygienische Blutkonserven mit dem HI-Virus infiziert. Jetzt erprobte man an einer Gruppe von 15 Bauern ein neues AIDS-Medikament mit dem Namen "VGV-1" - allerdings, ohne sie über mögliche Nebenwirkungen aufzuklären und damit ihre "informierte Zustimmung", so der Fachterminus, einzuholen.
->   Mehr über "Informed Consent" bei Wikipedia.com
Theorie widerspricht der Praxis
Theoretisch gibt es in China seit 2004 Regeln für eine "Gute Klinische Praxis", die bei allen klinischen Versuchen befolgt werden müssen.

In diesen Regeln ist auch davon die Rede, dass die Patienten sich gut informiert über den Versuch fühlen müssen und dass Versuche sowohl während des Verlaufs als auch ex-post bei Genehmigung der Versuchsprotokolle durch Aufsichtsorgane der Krankenhäuser kontrolliert werden sollen. Die Praxis sieht aber anders aus.
->   Chinesische Richtlinien für klinische Versuche (englisch)
Falsche Informationen über Auswirkungen
Laut "Nature" wurde den HIV-infizierten Landwirten Information über Nebenwirkungen trotz Nachfrage nicht nur vorenthalten, ihr Einverständnis wurde ihnen durch völlig falsche Auskünfte abgerungen. Es hieß, dass das Medikament dazu diene, sie für die nächsten 20 Jahre von den Symptomen der Krankheit zu befreien.

Stattdessen bekamen manche hohes Fieber und Ausschlag, andere litten unter so heftigen Reaktionen, dass sie zusätzliche Medikamente brauchten - die sie aus eigener Tasche bezahlen mussten.
Ethik fehlt auch in Wissenschaftsmagazinen
Die AIDS-Patienten haben nun offiziell Beschwerde erhoben und prüfen rechtliche Schritte, weshalb der Fall überhaupt erst breiter bekannt wurde. Den Verantwortlichen in den Aufsichtsbehörden der Krankenhäuser fehle bioethisches Wissen, bedauern die offiziellen Stellen.

Und auch die - wenigen - Wissenschaftsmedien geben zu, dass sie zur Publikation eingereichte Studien nicht auf ethische Kriterien prüfen: "Würden wir internationale Maßstäbe anlegen, bekämen wir kaum Papers", wird der Herausgeber einer chinesischen Zeituschrift von "Nature" zitiert.
Angst vor schlechtem Ruf
Der Vorfall bzw. die Praxis stellt aber nicht nur das chinesische Forschungssystem vor neue Herausforderungen, auch internationale Unternehmen fürchten nun um ihren Ruf.

Denn der Versuch an den AIDS-Patienten aus Henan wurde zwar von chinesischen Medizinern in einem Spital in Beijing durchgeführt, das Medikament selbst stammte aber vom US-Unternehmen "Viral Genetics".
Ethische Standards als Teil der "Corporate Responsibility"
Anstatt unkomplizierte Versuchsergebnisse zu erhalten, droht nun die Verstrickung in ein Schadenersatzverfahren, das die Patienten anstreben wollen. Die fehlenden ethischen Standards in China könnten sich - im Sinn der Globalisierung - doch noch negativ auswirken:

Werden ethische Regeln durch börsennotierte Unternehmen, zu denen "Viral Genetics" zählt, verletzt, können Kursverfall oder sogar Streichung der Aktie aus internationalen Fonds drohen.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 13.5.05
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Serie "Global Science"
science.ORF.at lädt mit der Serie "Global Science" zu einer wissenschaftlichen Weltreise. Im Mittelpunkt der unregelmäßig erscheinenden Beiträge stehen Länder und Regionen stehen, von deren Wissenschafts- und Forschungslandschaft man in Österreich nur selten liest. Der nächste Zwischenstopp wird der Iran sein.

Bisher erschienen:
Indien: Wissensmacht des 21. Jahrhunderts? (16.3.05)
Islam im Internet: Fatwa, Politik und Heiratsagenturen (14.4.05)
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->   Staatliche Chinesische Nahrungsmittel- und Medikamenten-Agentur
->   "Viral Genetics"
Mehr über medizinische Forschung in China in science.ORF.at:
->   China testet AIDS-Impfstoff am Menschen (13.4.05)
->   China: Verdauungstrakt und vier Organe verpflanzt (21.12.04)
->   China lässt weltweit erstes SARS-Medikament zu (10.8.04)
 
 
 
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01.01.2010