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Ursprung nutzloser DNA: Physikalische Erklärung?  
  Die Gene von Lebewesen mit echtem Zellkern sehen aus wie ein Mosaik: Abschnitte, die lebenswichtige Informationen enthalten, sind von sinnlosen Sequenzen unterbrochen. Ein internationales Forscherteam vermutet nun, dass das keine biologischen, sondern thermodynamische Ursachen hat.  
Wie Enrico Carlon vom Interdisciplinary Research Institute IEMN in Frankreich und seine Mitarbeiter herausgefunden haben, sind die codierenden Sequenzen der DNA gegenüber Hitzeeinwirkung besonders resistent. Für andere Bereiche der DNA gilt das nicht: Genau dort könnten sich im Lauf der Evolution ungebetene DNA-Stücke in das Erbmolekül integriert haben.
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Die Studie "Exons, Introns, and DNA Thermodynamics" von Enrico Carlon et al. erschien im Fachjournal "Physical Review Letters" (Band 94, 178101; doi:10.1103/PhysRevLett.94.178101).
->   Zur Studie
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Gene: Mosaik von Sinn und Unsinn
Gene sind Abschnitte auf der DNA, die der Herstellung von Proteinen dienen. Genauer: Sie speichern Information in Form von "Buchstabenfolgen", den berühmten Nukleotidbasen A, G, C und T.

Dieser Code wird von der lebenden Zelle in eine Kette von Amonsäuren übersetzt, aus denen wiederum die Proteine bestehen. Diese Beschreibung gilt zumindest für Bakterien. Bei Eukaryonten - Lebewesen mit echtem Zellkern - ist die Angelegenheit etwas komplizierter.

Wie man seit dem Jahr 1977 weiß, sind bei ihnen viele Gene von so genannten Introns unterbrochen - DNA-Abschnitte, die keinerlei brauchbare Information speichern und daher im Zuge der erwähnten Übersetzung entfernt werden. Stellt sich die Frage: Warum gibt es überhaupt Introns?
->   Intron bei Wikipedia
Hypothesen zum Ursprung
Eine Möglichkeit wäre etwa, dass sie von den Eukaryonten "erfunden" wurden, um sich gegen genetischen Parasitismus zu wehren. Denn niederen Organismen fehlen die Enzyme, um die "stummen" Sequenzen herauszuschneiden.

Eine ebenfalls verbreitete Hypothese geht davon aus, dass bereits die Urgene Introns enthielten und dass sie von Bakterien erst im Lauf der Evolution abgestoßen wurden. Deswegen, weil sie als genetischer Ballast die Verdoppelung der DNA während der Zellteilung bremsen.
Thermodynamische Gründe vermutet
Wie eine Studie von Physikern nahe legt, könnte die Allgegenwart der Introns auch viel einfachere Gründe haben, nämlich thermodynamische. Ein Team um Enrico Carlon vom Interdisciplinary Research Institute IEMN in Frankreich untersuchte in einer Computersimulation das Schmelzverhalten der DNA.

Allerdings analysierten sie dabei nicht natürliche Gene, sondern stellten eine virtuelle DNA-Sequenz her, der sämtliche Introns entfernt wurden. Übrig blieben nur mehr die codierenden Sequenzen (Exons genannt) von über 80 Genen, die - rein rechnerisch - aneinandergereiht wurden.
Hitze löst die DNA-Stränge
Unter Anwendung bewährter Simulationsmodelle erhöhten die Forscher langsam die Temperatur. Unter natürlichen Bedingungen passiert ab etwa 70 Grad Celsius folgendes: An manchen Stellen trennen sich die beiden komplementären DNA-Stränge und das Molekül verliert seine Wendeltreppenform.

Dieser "Schmelzpunkt" kann - je nach Sequenz - bei unterschiedlichen Temperaturen auftreten, wobei die Regel gilt: Je stabiler eine Sequenz, desto länger bleiben die DNA-Stränge zusammen.
Exons besonders stabil
Die Simulation der Forscher um Carlon ergab nun, dass die künstlichen Stränge sich just an den Stellen voneinander lösten, an denen die Grenzen zwischen den verschiedenen Exons lagen.

Nach Ansicht von Enrico Carlon kein Zufall: Das weise darauf hin, dass "junk DNA", wie Introns auch manchmal despektierlich genannt werden, durch einen thermodynamischen Prozess in das Erbgut geschleust wurde.

Denn ungebetene Sequenzen können sich seiner Ansicht nach genau dort leicht in vorhandene DNA-Stränge "hineindrängen", wo diese eine Art Y formen: An der Grenze zwischen stabilen Exons und weniger stabilen Regionen.
Ursache oder Folge?
Es könnte aber auch sein, dass Carlon und Mitarbeiter damit gewissermaßen das Pferd von hinten aufzäumen. John Logsdon von der University of Iowa deutet die Befunde jedenfalls genau umgekehrt: Die Exons könnten sich zu Inseln der thermodynamischen Stabilität entwickelt haben, damit die Zelle die Introns einfacher los wird.

Robert Czepel, science.ORF.at, 17.5.05
 
 
 
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01.01.2010