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Sarkasmus-Netzwerk im Gehirn entdeckt  
  Sarkastische Äußerungen zu verstehen, ist eine hochkomplexe Aufgabe. Das wissen die meisten Menschen nicht nur aus eigener Erfahrung, schließlich passiert es nicht selten, dass man selbst einen sarkastischen Unterton überhört. Auch die Gehirnforschung bestätigt nun, dass mehrere Teile des Gehirns störungsfrei zusammenarbeiten müssen, wenn sich aus der Kombination von Inhalt, Situation und Tonfall die Intention des Sprechers erschließen soll.  
Wie Psychologen der Universität Haifa (Israel) herausfanden, spielt der Frontallappen, und hier insbesondere der untere Teil des präfrontalen Cortex, eine Schlüsselrolle, wenn Sarkasmus richtig interpretiert werden soll.

Zu diesem Schluss kamen Simone Shamay-Tsoory und Kollegen durch Verständnistests mit Patienten, deren Gehirne durch Unfälle oder Krankheiten verschieden stark geschädigt wurde.
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Der Artikel "The Neuroanatomical Basis of Understanding Sarcasm and Its Relationship to Social Cognition" von S. G. Shamay-Tsoory und Kollegen ist am 22. Mai 2005 im Fachjournal "Neuropsychology" erschienen (Band 19, S. 288-300, doi: 10.1037/0894-4105.19.3.288).
->   Fachmagazin "Neuropsychology"
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Inhalt und Absicht in Beziehung setzen
Um eine sarkastische Äußerung richtig zu verstehen, muss man sich - genau betrachtet - ziemlich anstrengen: Nicht nur der Sinn des Gesagten muss erfasst werden, sondern Inhalt und Sprecher müssen in Beziehung zur Situation gesetzt und daraus die richtigen Schlüsse gezogen werden.

Kein Wunder also, dass sich diese Fähigkeit erst entwickeln muss und Kleinkinder mit Sarkasmus nicht umgehen können. Sie erfassen die Intentionen des Sprechers noch nicht und können deshalb Inhalt und Absicht nicht interpretieren.
Schäden am Frontallappen und Kleinhirn
Die israelischen Psychologen wollten mit ihrer Arbeit herausfinden, welche Gehirnregionen genau benötigt werden, um sarkastische Äußerungen verstehen zu können.

Nachdem bekannt war, dass bei der Sprachverarbeitung insbesondere der Frontallappen (Lobus frontalis) und das Kleinhirn (Cerebellum) eine große Rolle spielen, suchten die Forscher nach Personen, bei denen diese beiden Teile durch eine Krankheit oder einen Unfall nicht ganz funktionstüchtig waren.
->   Mehr über das Gehirn bei Wikipedia
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Der Versuch: Interpretation von Erzählungen
25 Probanden mit geschädigtem Stirnlappen, 16 mit Schäden am Kleinhirn und 17 gesunden Vergleichspersonen wurden kurze Geschichten vorgelesen, in denen sich ein Mensch gegenüber einem anderen sarkastisch äußert.

Zum Beispiel: "Joe kommt ins Büro, und anstatt mit Arbeit zu beginnen, setzt er sich zum Ausruhen hin. Der Chef bemerkt Joes Verhalten und sagt im Vorbeigehen zu ihm: 'Arbeite nicht zu viel, Joe!'"

Nachdem sie die Geschichte gehört hatten, mussten die Versuchspersonen zuerst eine inhaltliche Frage beantworten (um zu überprüfen, ob sie dem Inhalt folgen konnten) und dann eine Einschätzung abgeben. In diesem Fall etwa, ob sie glaubten, dass der Chef von Joes harter Arbeit beeindruckt war.
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Frontallappen zentral für Sarkasmus-Verständnis
Es zeigte sich, dass nur die Patienten mit dem geschädigten Stirnlappen den Sarkasmus nicht erkennen konnten. Wenn ein spezieller Teil, der ventromediale Bereich des präfrontalen Cortex, verletzt war, fielen die Verständnisschwierigkeiten besonders massiv aus.
->   Mehr zum Frontallappen bei Wikipedia
Sarkasmus wird über Netzwerk verarbeitet
Obwohl der Frontallappen offensichtlich zentral ist, gehen die Psychologen davon aus, dass Sarkasmus über ein Netzwerk aus mehreren Gehirnteilen verarbeitet wird:
- Die Hirnrinde in der linken Hemisphäre erschließt den wörtlichen Sinn des Gesagten.
- Der Stirnlappen und die rechte Hemisphäre verarbeiten den sozialen und emotionalen Kontext und die Absicht der Äußerung. Sie identifizieren Widersprüche zwischen dem wörtlichen Sinn und der Intention.
- Der ventromediale Teil im präfrontalen Cortex ist schließlich für die Interpretation des festgestellten Widerspruchs zuständig und lässt den Zuhörer eine Schlussfolgerung ziehen, also letztlich den Sarkasmus verstehen.
Gute Ausrede
Die Arbeit von Simone Shamay-Tsoory und Kollegen fügt nicht nur dem Wissen über das Gehirn ein Detail hinzu, sie hat auch etwas Tröstliches: Wenn man wieder einmal eine sarkastische Äußerung missverstanden hat, kann man sich zukünftig einfach darauf ausreden, dass der präfrontale Cortex momentan nicht ganz funktionstüchtig ist.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 23.5.05
->   Universität Haifa
->   Mehr über das Gehirn im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010