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Chinesisch: Erst Schreiben lernen, dann Lesen  
  Kinder lernen erst dann Lesen, wenn sie die gesprochene Sprache beherrschen, lautet ein altes Dogma der Linguistik. Das gilt allerdings nicht für das Chinesische, wie nun Forscher herausgefunden haben. Hier müssen Kinder zuerst des Schreibens mächtig sein, bevor sie Texte lesen können.  
Im Gegensatz zu westlichen Sprachen ist dabei das Hören nicht so wichtig, wie ein Team um Li Hai Tan von der University of Hong Kong berichtet.
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Die Studie "Reading depends on writing, in Chinese" von Li Hai Tan erscheint im Fachjournal "Proceedings of the National Academy of Sciences" (Band 102, S. 8775-9; doi: 10.1073_pnas.0503523102).
->   Zur Studie (sobald online)
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Ein Dogma: Hören kommt vor dem Lesen
Das Beherrschen einer Sprache besteht aus vier verschiedenen, grundlegenden Fähigkeiten: Hören, Sprechen, Lesen und Schreiben. Bisher war man der Meinung, dass der Erwerb der Lesekompetenz vor allem auf dem Hören aufbaut, d.h. der Fähigkeit, die phonologischen Strukturen einer Sprache zu erkennen. Seit den 1960er Jahren wurde eine Vielzahl von Studien publiziert, die diese Theorie bestätigten.

Die meisten davon betrafen zwar westliche Alphabetsprachen, es gab jedoch einige Hinweise, dass diese Regel auch für das Chinesische gilt, das bekanntlich nicht mit Buchstaben, sondern mit Symbolzeichen - so genannten Logogrammen - operiert.
->   Logogramm bei Wikipedia
Chinesisch: Ein Laut, viele Bedeutungen
Bild: PNAS
Dieser Ansicht setzen nun Forscher aus Hongkong und den USA eine ganz neue Theorie entgegen. Li Hai Tan von der University of Hong Kong und seine Mitarbeiter vermuten, dass die Entwicklung der Lesefähigkeit im Chinesischen einen anderen Weg nimmt.

Und zwar aus zwei Gründen: Erstens teilen sich Wörter dieser Sprache häufig die selben gesprochenen Silben, sie klingen also gleich. Zweitens werden diese gleich lautenden Silben durch grafische Zeichen, Symbole, dargestellt. Daher sei die durch Sprachlaute übermittelte Information für ein chinesisches Kind nicht ausreichend, um die Bedeutung eines geschriebenen Symbols zu erschließen, so die Forscher.

Das demonstrieren die Forscher in ihrer Studie am Beispiel der Silbe "shi" (Bild rechts): Sie wird von zehn verschiedenen Zeichen verwendet, die zwar gleich klingen, aber etwas völlig anderes bedeuten. Dieses für das Chinesische typische Muster bezeichnen Linguisten als "phonologische Konvergenz" und "semantische Divergenz".
->   Phonologische Konvergenz und semantische Divergenz (Uni Erfurt)
Hypothese: Hören im Chinesischen relativ unwichtig
Daher vermuteten Li Hai Tan und sein Team, dass es im Chinesischen viel mehr auf die visuellen und orthografischen Fähigkeiten ankommt, wenn ein Kind Lesen lernen will. Anders ausgedrückt: Zuerst kommt das Schreiben, dann das Lesen. Das Hören sollte bei diesem Prozess hingegen eine untergeordnete Rolle spielen.

Um diese Hypothese zu überprüfen, unterzogen die Linguisten chinesische Kinder verschiedenen Tests, die gerade erst mit dem Lesen begonnen hatten bzw. darin leicht fortgeschritten waren. So mussten die Schüler etwa Symbole bzw. Grafiken so schnell und präzise als möglich kopieren sowie gesprochene Silben erkennen, denen ein typischer Beginn- oder Endlaut fehlte.
Wer Schreiben kann, lernt Lesen
Die Experimente zeigten, dass fortgeschrittene Fähigkeiten im Schreiben in der Tat auch mit einem guten Abschneiden in Lesetests einhergingen. Das korrekte Erkennen und Unterscheiden von Silben - die so genannte phonologische Aufmerksamkeit - stellte sich hingegen als keine besonders gute Vorhersagegröße für die Lesefähigkeit der Kinder heraus.

Schluss der Forscher: Die Hypothese stimmt, im Chinesischen hat das Lesen tatsächlich eine gewisse Schreibkompetenz zur Voraussetzung, das Hören dürfte - im Gegensatz zu westlichen Sprachen - dabei keine entscheidende Rolle spielen.

Weitere Experimente zeigten, dass für das Lesen sowohl Fähigkeiten im Bereich der Orthografie als auch der Motorik notwendig sind. Li Hai Tan und Kollegen wollen ihre Erkenntnisse in Zukunft einsetzen, um die Legasthenie im Chinesischen besser behandeln zu können.

[science.ORF.at, 7.6.05]
->   University of Hong Kong
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Legasthenie: "Umweltlärm" erschwert das Verständnis (30.5.05)
->   Was Schriftzeichen gemeinsam haben (2.2.05)
->   Legasthenie: Kultur bestimmt betroffene Hirnregion (2.9.04)
->   Die Zukunft der Sprachen (26.2.04)
 
 
 
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01.01.2010