News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 
Neuronen-Manufaktur im Reagenzglas  
  Entgegen einer alten Lehrmeinung werden auch im Gehirn des Erwachsenen laufend neue Nervenzellen gebildet. US-Forscher haben nun die komplette Entwicklung - von der Stammzelle bis zum fertigen Neuron - erfolgreich im Reagenzglas durchgeführt. Bis jetzt allerdings nur bei Mäusen.  
Wie Dennis A. Steindler von der University of Florida und seine Mitarbeiter spekulieren, könnte könnte man mit dieser Methode einmal individuelle "Ersatzteillager" anlegen, um damit Gehirnschäden und Nervenkrankheiten zu behandeln.
...
Die Studie "Phenotypic and functional characterization of adult brain neuropoiesis" von Bjorn Scheffler et al. erscheint auf der Website des Fachjournals "Proceedings of the National Academy of Sciences" (doi:10.1073_pnas.0503965102).
->   Zur Studie (sobald online)
...
Auch im Alter bilden sich noch Nervenzellen
Menschen werden mit einer festgelegten Zahl von Nervenzellen im Gehirn geboren und müssen damit das ganze Leben ihr Auslangen finden. Dieses Dogma der Neurowissenschaft hielt sich bis in die 1990er Jahre.

Dann entdeckte man allerdings, dass das Gehirn keineswegs so statisch ist, wie bisher angenommen, denn offenbar werden auch im Erwachsenenalter zusätzliche Neuronen gebildet. Dafür verantwortlich sind Gehirnstammzellen - und der Prozess zeigt große Ähnlichkeiten zur Bildung von Blutzellen im Knochenmark, der so genannten Hämatopoiese.
Knochenmark und "Hirnmark"
Um auf diese Entsprechungen zwischen der Neuronen- von Blutbildung hinzuweisen, führten Dennis A. Steindler und seine Mitarbeiter von der University of Florida im Jahr 1999 den Begriff "Neuropoiese" ein (Trends in Neurosciences 22, S. 348).

Auch die Gehirnregion, aus der neue Nervenzellen hervorgehen, bekam einen Namen, der an bereits Bekanntes erinnern sollte, nämlich "Hirnmark" ("brain marrow").
->   Zum Artikel bei Trends in Neurosciences
Wo neue Nervenzellen entstehen
Mittlerweile weiß man auch, wo das "Hirnmark" liegt. Es handelt sich dabei um die so genannte Subventrikularzone, eine Zellschicht, die unter der Auskleidung der Hirnventrikel, den flüssigkeitsgefüllten Hohlräumen des Gehirns, liegt.

Hier beginnt die wunderbare Vermehrung der Hirnsubstanz. Bei Nagern wurde bereits aufgeklärt, was dabei im Detail passiert: Zunächst entwickeln sich multipotente Gliazellen zu Vorläufern von Neuronen, wandern in entfernte Gehirnbereiche (etwa den Riechkolben) - und stimmen dann nach etwa drei bis vier Wochen klaglos ins Konzert der Nervenzellen ein. So, als wären sie immer dabei gewesen.
Auch beim Menschen nachgewiesen
Auch beim Menschen wurden ähnliche Einwanderungen nachgewiesen, und zwar im Hippocampus - eine Hirnregion, die an grundlegenden Prozessen wie Lernen oder der Gedächtnisbildung beteiligt ist.

Gegenwärtig wird diskutiert, dass eine zu geringe Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus etwa mit Depressionen im Zusammenhang stehen könnte. Das sei zwar noch nicht definitiv bewiesen, aber zumindest gebe es Hinweise, dass Antidepressiva die Neuropoiese fördern, so der Direktor des Wiener Hirnforschungszentrums, Hans Lassmann, im Gespräch mit science.ORF.at.
->   Hippocampus be Wikipedia
"Neuronen-Montagestraße"
Dennis A. Steindler und seine Mitarbeiter haben nun Gliazellen aus der Subventrikularzone von Mäusen im Reagenzglas kultiviert und deren Entwicklung bis zur ausdifferenzierten Nervenzelle nachgestellt:

"Es ist wie eine Montagestraße zur Herstellung beliebiger Mengen von Gehirnzellen", beschreibt der Erstautor der Studie, Bjorn Scheffler, die neue Methode: "Wir nehmen diese Zellen und frieren sie ein. Dann tauen wir sie auf, starten die Differenzierung und stellen Unmengen neuer Nervenzellen her."
In vitro statt in vivo
Dass es sich bei den kultivierten Zellen um die lang gesuchten Stammzellen handelt, wurde u.a. mit einer neuartigen Mikroskopietechnik, der "live-cell microscopy" nachgewiesen.

Dabei werden einzelne Zellen alle paar Minuten fotografiert und die Bilder dann zu einer Art Zeitrafferfilm zusammengefügt. Hier zeigte sich, dass die Zellen tatsächlich jene Entwicklungsstadien durchlaufen, die man bereits aus Untersuchungen am lebenden Tier kennen gelernt hatte.
Ersatzteillager möglich?
Sollte diese Methode auch bei menschlichen Nervenzellen funktionieren, könnte man damit dereinst individuelle Ersatzteillager für die Behandlung von Hirnverletzungen anlegen, spekulieren die Forscher in einer Aussendung. Jedenfalls könne man im Reagenzglas viel mehr Gehirnzellen herstellen, als es das Gehirn auf natürliche Art und Weise vermag.

In ihre Studie geben sich Steindler und Kollegen naturgemäß etwas bescheidener. Dort betonen sie, dass die Entwicklung von Nervenzellen nicht notwendig an die organische Umgebung im Gehirn gebunden sei. Offenbar kann man die entscheidenden Vorgänge auch in Nährlösungen ablaufen lassen.

Ohne Zweifel eine Pioniertat - schade nur, dass der Titel "Gehirne im Tank" bereits für einen Aufsatz von Hilary Putnam vergeben wurde. Der Studie von Dennis A. Steindler und Mitarbeitern stünde er ebenfalls recht gut an.

Robert Czepel, science.ORF.at, 14.6.05
->   Website von Dennis A. Steindler (Univ. Florida)
->   Hirnforschungszentrum der MedUni Wien
->   Brains in a vat ("Gehirne im Tank")
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010