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Springende Gene machen Gehirne einzigartig  
  US-Forscher wollen den Grund dafür gefunden haben, warum kein Gehirn dem anderen gleicht: Unsere Denkorgane sind deswegen so individuell gebaut, weil "jumping genes" in den Nervenzellen für genetische Vielfalt sorgen.  
Die Forscher um Fred H. Gage vom kalifornischen Salk-Institute wiesen erstmals nach, dass springende Gene nicht nur in Keimzellen aktiv sind. Das könnte weit reichende Folgen für die Gehirnentwicklung haben.
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Die Studie "Somatic mosaicism in neuronal precursor cells mediated by L1 retrotransposition" von Alysson R. Muotri et al. ist im Fachjournal "Nature" erschienen (Band 435, S.903-10; doi:doi:10.1038/nature03663).
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Individuelle Gehirne
Keines gleicht dem anderen, nur Einzelstücke gibt es: Nicht von Eiern ist die Rede, auch nicht von Schneeflocken, sondern von Gehirnen. "Hirne sind Wunderwerke der Vielfalt. Keine zwei sehen gleich aus - nicht einmal bei Zwillingen, die sonst identisch sind", schreiben Fred Gage und seine Mitarbeiter in einer Aussendung zu ihrer neuesten Studie.

Warum aber ist jedes Hirn ein Unikat - und der Mensch gerade in Kopfangelegenheiten ein so ausgeprägter Individualist? Eine mögliche Antwort darauf geht auf Forschungen von Barbara McClintock aus den 1950er Jahren zurück.
Entdeckung springender Gene
Damals suchte die US-amerikanische Botanikerin und Genetikerin nach einer Erklärung für ein eigenartiges Verhalten in der Maispflanze, bei der sich gewisse mutierte Gene von einer Zelle auf andere zu übertragen schienen. Sie postulierte, dass es bewegliche Abschnitte des Erbguts - so genannte Kontrollelemente - geben müsse, die dafür verantwortlich sind.

Die Idee von McClintock stieß in der Forschergemeinde zunächst auf wenig Gegenliebe, unter anderem deswegen, weil sie dem statischen Gen-Konzept der damaligen Zeit widersprach. Doch sie sollte Recht behalten.

Die Kontrollelemente, heute besser bekannt als springende Gene bzw. "Transposons", gibt es wirklich, und sie finden sich nicht nur beim Mais, sondern in so gut wie allen Organismen. McClintock bekam für diese Entdeckung im Jahr 1983 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin.
->   Barbara McClintock - Nobel Prize 1983
Die Mütter aller Nervenzellen
Der Zusammenhang zwischen springenden Genen und der Individualität des Gehirns ist nun nach Fred Gage und Mitarbeitern durch eine Art Nadelöhr der Nervenzell-Entwicklung gegeben:

Nervenzellen entwickeln sich nämlich aus ein und denselben neuralen Stammzellen, ganz egal, um welchen Grundtyp es sich handelt. Folglich kann eine Mutation in der Frühphase dieser Entwicklung recht weit reichende Folgen für das weitere Schicksal der Zelle haben.
Transposons beim Menschen
Die Forscher vom kalifornischen Salk-Institute gingen auf die Suche nach solchen Mutationen, indem sie das Schicksal springender Gene mit dem Namen LINE-1 in neuralen Vorläuferzellen beobachteten. Letztere wurden sowohl bei der Ratte (im Reagenzglas) als auch bei der Maus (im lebenden Tier) untersucht.
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LINE-1
LINE-1 ist die einzige aktive springende Genfamilie, die beim Menschen nachgewiesen wurde. Das Genom von Säugetieren besteht zu bis zu 20 Prozent aus "jumping genes", allerdings ist der Großteil davon auf Grund von Mutationen nicht mehr aktiv. Im menschlichen Erbgut finden sich 80 bis 100 Mitglieder der LINE-1-Familie, die nach wie vor "hüpfen", d. h. ihren Platz im Genom wechseln können.
->   Springende Gene bei Wikipedia
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Hüpfen im Gehirn
Das Team um Gage wurde tatsächlich fündig: Die LINE-1-Gene erwiesen sich als durchaus springfreudig und wechselten ihren Platz im Erbgut. Unter anderem in Zellen der Großhirnrinde, des Hypothalamus, der Ventrikel und des Kleinhirns.

Das war insofern überraschend, als man so etwas bisher nur in Keimzellen, d. h. Spermien und Eizellen, nachweisen konnte, aber nicht in anderen Organen. Entscheidend dabei ist, dass die Transposons mit ihrem genetischen "Copy und Paste" offenbar die Aktivität anderer wichtiger Gene beeinflussten.
Erklärung für neuronale Vielfalt
Damit entstehen, so die US-Forscher, Variationen in der Gehirnentwicklung, selbst wenn die genetischen Startbedingungen - wie bei eineiigen Zwillingen - ident sind. Das könnte die Erklärung für das "Wunderwerk der Vielfalt" im Gehirn sein, doch Gage geht in seiner Interpretation noch einen Schritt weiter:

Für ihn besteht eine gewisse Analogie zum Immunsystem, wo ebenfalls genetische Variation geschaffen wird. Und zwar mit dem Ziel, möglichst viele unterschiedliche Anti-Körper gegen Krankheitserreger zur Verfügung zu haben.
Neurodarwinismus?
Auch in Gehirnen könne diese genetische Vielfalt durchaus produktiv genutzt werden, so Gage gegenüber science.ORF.at: So könnten etwa nur jene Zellen überleben, gleichsam selektiert werden, die sich gut in die neuronalen Schaltkreise einbauen lassen.

Mit dieser fast darwinistischen Interpretation befindet sich der US-Forscher in durchaus prominenter Gesellschaft. Der Nobelpreisträger Gerald Edelman entwickelte vor einigen Jahren eine - im Detail allerdings unterschiedliche - Theorie, mit der die zweckdienliche Organisation des Gehirns durch Neuronenselektion erklärt werden soll.

Das Überleben der tauglichsten Zellen sei jedoch strikt auf das Gehirn beschränkt, weil dieses eben besondere Anforderungen aufweise, betont Gage: "Im Herzen wäre so ein Element der Individualität wohl unerwünscht."

Robert Czepel, science.ORF.at, 16.6.05
->   Salk Institute for Biological Studies
->   Neural Darwinism - Enpsychlopedia
 
 
 
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01.01.2010