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Mafiaforscher plädieren für differenziertes Bild Siziliens  
  Sizilien: das Land der Paten und Mafiosi, mit seltsamen Riten und uralten Traditionen. Ein Land, das den Segnungen der Moderne bis heute zum großen Teil widersteht - so lautet das gängige Urteil. US-Anthropologen halten dieses Urteil für stereotyp: In ihrer fast 40-jährigen Beschäftigung mit Sizilien haben sie auch eine Menge kultureller Linien gefunden, die sich gegen die Mafia, Nepotismus und übertriebene Männerehre einsetzten - und für die Aufklärung.  
Über ihre Studien berichten die Anthropologen Jane Schneider (City University of New York) und Peter Schneider (Fordham University) in der aktuellen Ausgabe des renommierten Journals "Current Anthropology" (Aug.-Okt. 05).

Ihr Artikel beruht auf einem Vortrag, den sie im vergangenen Oktober in Wien gehalten haben.
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Bei dem Vortrag handelte es sich um die zweite "Eric Wolf Lecture" - eine Vortragsreihe, die im Zeichen des Lebenswerkes von Eric Wolf (1923-1999) steht, einem gebürtigen Wiener. Wolf musste 1938 aus Österreich emigrieren und war lange Zeit Professor für Anthropologie an der City University of New York. Die Studie wurde u. a. gesponsert vom Wittgensteinpreis 2000, den Andre Gingrich, Anthropologe an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, erhalten hatte.
->   Wittgensteinpreis 2000
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Gibt es eine "Essenz Siziliens"?
Filme wie "Der Pate" oder "Allein gegen die Mafia" haben das Bild Siziliens von Generationen geprägt. Klassische Bestandteile dieses Bildes: Korruption, starke Betonung von Ehrgefühl, patriarchale Strukturen, Brutalität gegenüber Feinden, viel Nachsicht gegenüber der eigenen Familie - zusammengefasst im Ausdruck der "ehrenwerten Gesellschaft".

Ein Resultat dieser Sicht ist es, so etwas wie eine "kulturelle Essenz" Siziliens anzunehmen - unveränderliche Eigenschaften und Charakteristika seiner Einwohner, die nicht zuletzt von zahlreichen Anthropologen in der Vergangenheit vertreten wurden, beklagen Schneider und Schneider in ihrer Studie.
Ein Mythos, gepflegt von Gegnern ...
Die Konstruktion des "Mythos Sizilien" begann schon sehr früh, wie die beiden Anthropologen ausführen. 1876 verglich ein Parlamentsabgeordneter des gerade geeinten italienischen Staates die sizilianischen Bauern mit den Ureinwohnern Amerikas, "unfähig für Zivilisation und Selbstregierung".

Sozialdarwinistische Kriminologen unterstellten den Süditalienern pauschal, minderwertige Gene zu besitzen, die sie besonders anfällig für Verbrechen aller Art machten.
... und Verteidigern
Diese negativen Beschreibungen von außen wurden von sizilianischen Intellektuellen oft aufgegriffen und in ihr positives Gegenteil verkehrt. Der Ethnologe Giuseppe Pitru präsentierte seinen norditalienischen Landsleuten zur Jahrhundertwende die Mafia erstmals als "ehrenwerte Gesellschaft".

Mit der Idee seien "Schönheit, Perfektion, Anmut verbunden". Wenn ein Mafioso beleidigt wird, müsse er sich nicht an das Gesetz wenden, um Recht zu bekommen - das sei eher als "schandhaft" zu betrachten.
Berühmtester Kronzeuge: Der Leopard
Die bekanntesten Beschreibungen des vermeintlich unveränderbaren Gemütszustandes der Sizilianer stammen von Prinz Fabrizio, dem "Leoparden" aus Giuseppe di Lampedusas gleichnamigem Roman.

Die fast lückenlose Besetzung Siziliens durch verschiedene Völker und Kulturen, verbunden mit einer strengen Landschaft und einem noch strengeren Klima, hätten aus den Einwohnern das gemacht, was sie sind: "Inselbewohner auch im Geiste", die sich gegen alles wehren, was neu ist.
Individualismus, Männlichkeit, Ehre
Wiewohl immer auf Seiten der Armen und Unterdrückten der Insel, schlug auch der sizilianische Autor Leonardo Sciascia in dieselbe Kerbe: Exzessiver Individualismus, übertriebene Männlichkeit und Ehrgefühle würden seine Mitbewohner vorantreiben, ihr Klassenbewusstsein sei weit geringer ausgeprägt als im Norden Italiens - weshalb die periodischen Bauernaufstände auch immer eher anarchistische Wutausbrüche waren als Ausdruck zielgerichteter Politik, etwa des Sozialismus.
Kritische Rekonstruktion der Geschichte
Soweit also die - nach Ansicht von Schneider und Schneider - überwiegend vereinfachende Fremd- und Selbstdefinition der Sizilianer. Frei nach ihrem Lehrer Eric Wolf machen sie sich für ein differenzierteres Bild der Mittelmeerinsel und ihrer Bewohner stark.

Das zeichnen sie einerseits durch eine kritische Rekonstruktion der Bildung der mafiösen Gesellschaftsstrukturen in der Zeit der italienischen Nationsbildung um 1860. Sie betonen dabei die enge Verzahnung der Mafia-Subkultur mit den offiziellen Agenten des Staates: von den Großgrundbesitzern, die in jenen Jahren der Landreformen zu den neuen Herren der Insel wurden und ihren Schutz in die Hände der Mafiosi gaben, bis zur Kollaboration amerikanischer Truppen nach der Besetzung Siziliens im Zweiten Weltkrieg.

Nicht verschwiegen wird auch das Naheverhältnis der christdemokratischen Partei zur Cosa Nostra in der Nachkriegszeit, die ihr jahrzehntelang die politische Vorherrschaft sicherte.
Widerstandspotenzial der Handwerker
Neben dieser Komplizenschaft staatlicher und nicht-staatlicher Gewalt ist Schneider und Schneider vor allem jenes widerständige Potenzial Siziliens wichtig, das nicht importiert wurde, sondern sich genauso aus der Gesellschaft heraus entwickelt hat wie die Mafia selbst - und das sowohl in der landläufigen Einschätzung als auch in der wissenschaftlichen Untersuchung oft unterschlagen wird.

Die Wurzeln dieses widerständigen Potenzials finden die beiden Anthropologen in der Kultur der Handwerker, in deren Werkstätten sich schon sehr früh so etwas wie Gegenöffentlichkeiten gebildet haben. Ihre Praxis sei weit weniger fatalistisch, patriarchal und Mafia-freundlich gewesen.
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Beispiel Geburtenkontrolle
Ein Beispiel: Der Rückgang der Geburtenrate von Handwerkerfamilien bereits in den 1920er Jahren, als die Frauen nicht mehr zwölf, sondern nur noch zwei oder drei Kinder bekamen. Das sei auf Grundlage neu erlernter "Verhütungstechniken" (coitus interruptus) eine bewusste Reaktion auf geänderte soziale Bedingungen gewesen, schreiben Schneider und Schneider. Erst Jahrzehnte später folgten auch die Bauern der Umgebung diesem Beispiel.
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Tradition bis zur Anti-Mafia-Bewegung
Die Werkstätten der Handwerker wurden so etwas wie öffentliche Sphären, in denen über Politik und Selbstorganisation diskutiert werden konnte. Viele der Führer der sozialistischen Bewegung Siziliens stammten aus ihren Reihen.

Eine Tradition des Handwerks, die bis zur Anti-Mafia-Bewegung der 1980er Jahre reichte: Viele der Aktivisten, die vornehmlich aus der Mittelklasse Palermos kamen, stammten ursprünglich aus kleineren Orten in der Provinz und hatten Handwerker als Eltern.

In kürzester Zeit wurden unter dem später ermordeten "Chefaufdecker" Giovanni Falcone nicht nur Hunderte Mafiosi verurteilt, sondern auch viel Wissen über ihre Praktiken gesammelt, schreiben die Anthropologen.
Auch Widerstand gehört zur "Essenz Siziliens"
Der Erfolg der Anti-Mafia-Bewegung, der Sizilien "heute zu einem bemerkenswert anderen Platz" gemacht hat, beruhe darauf, dass ihre Protagonisten tief verwurzelt in ihrer Heimat sind - um nichts weniger als die Mafiosi selbst, die nur scheinbar die Essenz Siziliens darstellen.

Auch wenn unter der gegenwärtigen Regierung Berlusconi die Anti-Mafia-Bewegung schwere Rückschläge erleiden musste: Beweis für eine unabänderliche Seele der Sizilianer, die nun quasi wieder zu sich zurückfindet, ist das nach Ansicht der Autoren mit Sicherheit keiner.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 2.9.05
->   Sizilianisches Wikipedia
->   Current Anthropology
->   Jane C. Schneider (City University of New York)
->   Peter T. Schneider
 
 
 
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01.01.2010