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Wie Tiere denken  
  Die Frage, ob die mentalen Fähigkeiten von Menschenaffen mit den unsrigen vergleichbar sind, wird seit Darwins Zeiten kontrovers diskutiert. Neuere Versuche zeigen, dass Schimpansen einfach "anders" sind - und daher nicht nur als "unvollkommene" Menschen betrachtet werden sollten, wie der Chemiker Peter Markl in einem Gastbeitrag betont. Markl hat für das Europäische Forum Alpbach 2005 im August ein Seminar zu diesem Thema initiiert, im Rahmen dessen führende Experten den Stand der Forschung präsentieren werden.  
Schon Darwin grübelte
Von Peter Markl

Die Diskrepanz ist nur wenig jünger als Darwins Evolutionstheorie. Selbst Darwin litt an ihr: in seiner "Abstammung des Menschen" schrieb er, in Bezug auf die mentalen Fähigkeiten sei "die Kluft zwischen den höchsten Affen und den niedrigsten Wilden immens", aber noch auf derselben Seite merkte er einschränkend an, dass es "in den mentalen Fähigkeiten zwischen Menschen und höheren Säugetieren keine grundlegenden Unterschiede" gebe.

Seither schwankt die Beurteilung dieser Frage selbst unter Experten und auch heute wird sie wieder sehr kontrovers diskutiert, weil die Kleinheit der psychologischen Unterschiede zwischen Menschen und Primaten immer wieder unter den Ausgangsprämissen für die auch rechtliche Gleichbehandlung von Tieren angeführt wird.
"Bambifizierung der Tiere"
Ihre große Resonanz aber verdankt die Kontroverse fraglos dem, was Frans de Waal, einer der führenden Schimpansen-Experten der Welt, die "Bambifizierung der Tiere" genannt hat.

Clive D.L. Wynne, Professor für Psychologie an der Universität von Florida und Autor eines Buches über kognitive Prozessen im mentalen Leben von Tieren, vermutet, dass der Eindruck, dass der Unterschied vernachlässigbar klein sein, nicht unwesentlich darauf zurückgeht, dass nach einigen Jahrzehnten relativer Abstinenz einige eine der führenden Tierverhaltensexperten wieder dazu übergegangen seien, einer immer präsenten Versuchung nachzugeben: nämlich der Versuchung, tierisches Verhalten anthropomorph zu deuten.

Wynne plädiert zum Beispiel dafür, extrem vorsichtig zu sein, bevor man Tieren irgendeinen Grad von Bewusstsein zuschreibt. Frans de Waal dagegen sieht eine Furcht vor anthropomorphen Deutungen tierischen Verhaltens als die Ursache "einer Blindheit für die menschenähnlichen Charakteristika von Tieren und die tierähnlichen Charakteristika in uns selbst".
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Zu diesem Thema werden beim Europäischen Forum Alpbach 2005 zwei führende Experten - Tetsuro Matsuzawa von der Kyoto University und Clive D. L. Wynne von der University of Florida, Gainesville - das Seminar "How do animals think? Animal cognition in human context" (19.-24.08.2005) leiten. science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Europäisches Forum Alpbach
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Haben Schimpansen Empathie?
Wie schwierig es ist, darüber zu einem Urteil zu kommen, demonstriert die jüngste Geschichte der Diskussionen um die Frage, ob ein Schimpanse eine Vorstellung davon hat, was im Kopf eines anderen Schimpansen vor sich geht. Weiß - zum Beispiel - ein Schimpanse, was der andere Schimpanse sieht ?
"Sie verstehen psychologische Zustände in anderen"
Die beiden auf der Welt führenden Teams beurteilen die Problemsituation heute ziemlich unterschiedlich: Das Team um Michael Tomasello in Leipzig ist sich ziemlich sicher geworden:

"Die neuen Daten legen eine drastische Revision unserer Theorien darüber, wie weit andere Tiere die psychologischen Zustände der Artgenossen verstehen, nahe. Schimpansen scheinen etwas davon zu verstehen, was andere sehen oder nicht sehen, oder was sie in der unmittelbaren Vergangenheit gesehen haben oder nicht sehen konnten; und auch einiges über die mentalen Zustände hinter den zielgerichteten Aktivitäten des anderen.

Es ist auch ganz klar, dass sich diese Vorstellungen von denen unterscheiden, die sich Menschen machen. Schimpansen verstehen einige psychologische Zustände in anderen - die Frage ist nur, welche und wie weit".
"Methoden prinzipiell nicht geeignet"
Die zweite der führenden Gruppen - die Gruppe um Daniel Povinelli in den USA (Lafayette, Louisiana) ist zu einem anderen, vorläufigen Schluss gekommen: auch sie wollen die prinzipielle Möglichkeit, dass Schimpansen die Fähigkeit haben könnten, in ihrem Hirn mentale Zustände anderer zu repräsentieren und diese Repräsentationen in ihre eigenen kognitiven Prozesse einzubinden, nicht leugnen.

Sie sind aber zur Ansicht gekommen, "dass die Methoden, mit denen man bisher dafür eindeutige Belege zu bekommen hoffte, prinzipiell nicht geeignet sind".
Experiment mit verblüffendem Ausgang
Povinelli und seine Kollegen in Lafayette stehen unter dem Eindruck eines ganz einfach scheinenden Experiments, das ein verblüffendes Resultat hatte.

Es ging um die eingangs erwähnte Frage, ob Schimpansen verstehen, was andere sehen können. Es scheint für die Schimpansen etwas ganz natürliches zu sein, ihre Pfleger um Nahrung anzubetteln, indem sie die Hände nach ihnen ausstrecken. So viel ist klar: Man vermutet natürlich, dass es auch für einen Schimpansen sinnlos ist, jemanden anzubetteln, der einen gar nicht sieht.
Betteln und Blicken
Das Lafayette-Team stellte seine Schimpansen nun vor die Möglichkeit, jeweils die Wahl zwischen zwei Personen zu haben: zwischen jemandem, der die Bettelgeste gar nicht sehen kann oder jemandem, der in Blickkontakt mit ihnen steht.

Da saßen vor dem Käfig zwei Pflegerinnen, von denen die eine den Mund verbunden hatte, die andere die Augen. Die Schimpansen bettelten die beiden gleich häufig an. Das änderte sich auch nicht, als sich die eine einen Kübel über den Kopf gestülpt hatte, während die andere sich den Kübel neben den Kopf hielt.

Wenn eine Pflegerin sich die Augen zuhielt, während die andere ihre Ohren verbarg - die Schimpansen hielten es für gleich aussichtsreich, auch die anzubetteln, die sie offensichtlich nicht sehen konnte. Nur wenn eine der Pflegerinnen den Schimpansen offen den Rücken zukehrte, wandten sie sich an die Pflegerin, die sie sehen konnte.
Die Falle des Anthropomorphismus
Man ist natürlich versucht, sich das durch die Annahme zu erklären, dass die Schimpansen anscheinend nicht wissen, dass man mit den Augen sieht und daher alle anbetteln werden, die nicht gerade nur von hinten wahrgenommen werden können. Aber auch das ist noch zu "anthropomorph" gedacht.

Wenn man ihnen zwei Pflegerinnen in Rückenansicht präsentierte, von denen die eine sie mit nach vorn gewendetem Kopf über die Schulter ansah, hielten sie auch die andere, von der nur der Rücken sichtbar war, für gleich anbettelnswert.

Selbst erwachsene Schimpansen schaffen also nicht, was Menschenkindern schon nach 2-3 Jahren selbstverständlich ist.
Schimpansen denken "anders"
Die mentalen Zustande von Schimpansen sind eben wirklich "anders" - sie sind nicht einfach "unvollkommene" Menschen.

Nach Povinelli ist heute noch offen, ob sich Schimpansen in die Geistesverfassung anderer hineinversetzen können; ja selbst die Frage, ob sie ein mentales Selbstkonzept haben, das über ein effektives und ausgeklügeltes System der Selbstrepräsentation zur Planung von Bewegungen hinaus geht, ist für Povinelli noch nicht klar.

Die Zeit - so viele Kommentatoren - ist reif geworden für eine schlichte und plausible Einsicht: jede Spezies ist auch in ihrem Verhalten im Lauf von Jahrmillionen der Evolution der jeweiligen ökologischen Nische, in der sie überlebt hat, angepasst worden.

Die spezifischen Anpassungszwänge sind wesentlich für das Verständnis der Leistungsfähigkeit und der Grenzen der kognitiven Fähigkeiten von Tieren.
Alpbach: Experten erläutern Stand der Diskussion
Im August wird diese Sicht wahrscheinlich im Mittelpunkt der Diskussionen der jüngsten Forschungsergebnisse stehen, wenn Clive Wynne, der bei allen anthropomorphen Deutungen tierischen Verhaltens zu extremer Skepsis rät, gemeinsam mit Tetsuro Matsuzawa vom Primaten-Zentrum der Universität Kyoto - aus einem anderen Kulturkreis kommend und einer der führenden Schimpansen-Experten der Welt - im Rahmen des Europäischen Forum Alpbach eine Woche lang ein Seminar zum Thema "Wie denken Tiere" leiten werden.

[12.8.05]
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Der Autor des Gastbeitrages
Peter Markl, geb. 1936., ist Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach; bis 2001 Prof. für Analytische Chemie am Institut für Analytische Chemie der Universität Wien; Leiter der Arbeitsgruppe für chemische Ausbildung der Gesellschaft Österreichischer Chemiker; Vizepräsident der Vereinigung Österreichischer Wissenschaftler - des Österreichischen Zweiges der Pugwash-Bewegung (Friedensnobelpreis 1995), 1988 - 1992 Mitglied des internationalen Pugwash Council; Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Karl Popper Instituts (Wien); Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolution und Kognitionsforschung (Altenberg); Freiberufliche Tätigkeit als Wissenschaftsjournalist (1971 Kardinal Innitzer Förderungspreis für wissenschaftlich fundierte Publizistik; 1972 Staatspreis für journalistische Leistungen im Dienste von Wissenschaft und Forschung).
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01.01.2010