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Ost und West sehen Welt "mit anderen Augen"  
  Weltanschauungen sind in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich: so weit, so bekannt. Dass "Welt-Anschauungen" sich aber auch wortwörtlich unterscheiden, haben nun US-Psychologen bewiesen. Ihnen zufolge werden die gleichen visuellen Reize von Angehörigen des westlichen bzw. östlichen Kulturkreises höchst verschieden wahrgenommen.  
Während etwa US-Amerikaner eher auf die Objekte im Vordergrund eines Bildes blicken, schenken Chinesen dem Hintergrund und dem Gesamtzusammenhang mehr Aufmerksamkeit, schreiben der Psychologe Richard Nisbett von der University of Michigan und sein Team in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS).
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Die Studie "Cultural variation in eye movements during scene perception" erscheint zwischen 22. und 26. August 2005 in den PNAS (doi: 10.1073/pnas.0506162102).
->   Die Studie (sobald online)
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Unterschiedliche Wahrnehmung
Schon seit einigen Jahren weiß die Wissenschaft um die kulturellen Unterschiede bei der Wahrnehmung, Beurteilung und Erinnerung von Dingen bzw. an Dinge. Angehörige des westlichen Kulturkreises neigen eher zu einer analytischen Betrachtung von Bildern - d.h. sie konzentrieren und fokussieren stärker auf einzelne Objekte.

Bewohner des Ostens zeichnen sich eher durch einen ganzheitlichen Zugang zu Bildern aus - bei ihnen ist der Hintergrund und Zusammenhang von Bildern wichtiger.
Versuchsanordnung mit Objekt im Vordergrund ...
Wo genau diese Wahrnehmungsunterschiede einsetzen - direkt bei der Perzeption, bei der Reizverarbeitung oder in der unmittelbaren Erinnerung -, war nach Auskunft der Psychologen bisher aber unklar.

Um dies zu überprüfen, haben sie nun eine annähernd gleich große Anzahl von US-amerikanischen und chinesischen Probanden einem Versuch ausgesetzt.
... und komplexem Hintergrund
Dabei wurde ihnen im ersten Schritt ein Set von Bildern gezeigt, auf denen klar konturierte Objekte vor einem relativ komplexen Hintergrund zu sehen waren - z.B. ein Flugzeug vor einem Gebirgszug oder ein Tiger im Wald.

In der zweiten Phase wurden die Studienteilnehmer befragt, ob sie sich an die Bilder erinnern können - wobei erschwerend hinzukam, dass bei der Hälfte Vorder- bzw. Hintergrund ausgetauscht wurde.

Während des gesamten Versuchs wurde die Augenbewegung der Probanden mit Hilfe von Eye-Tracking-Werkzeugen verfolgt.
Amerikaner blicken schneller und länger auf Objekt
Bild: PNAS
Eye-Tracking vor dem Bildschirm
Die Resultate sind laut Richard Nisbett und seinem Team eindeutig: Die Amerikaner fixierten die Objekte im Vordergrund schneller (durchschnittlich 118 Millisekunden) und betrachteten sie auch länger als die Chinesen.

Die Asiaten wiederum warfen ihre Blicke im Vergleich schneller auf den Hintergrund und stellten eher eine Verbindung mit dem Objekt des Vordergrundes her.

Das spricht für die These eines stärkeren östlichen "Wahrnehmungsholismus", schreiben die Forscher, Asiaten scheinen den Hintergrund an Objekte zu "binden".
Die Unterschiede der Augenbewegungen
 
Bild: PNAS

Bild links: Muster der Augenbewegungen eines US-Amerikaners (rote, grüne Linien) - Konzentration auf das Objekt im Vordergrund, den Tiger; Bild rechts: die Augenbewegungen eines chinesischen Studienteilnehmers - stärkere Einbeziehung des Hintergrundes.
Soziale Ursachen der unterschiedlichen Weltanschauung
Diese Unterschiede bei der Wichtigkeit von Objekt oder Kontext haben nach Ansicht der Forscher soziale Ursachen: Vor allem die Bewohner Ostasiens leben in vergleichsweise komplexen sozialen Netzwerken mit vorgeschriebenen Rollenverteilungen. Für ihr effektives Funktionieren sei die Beachtung des Kontexts von zentraler Bedeutung.

Im Gegensatz dazu leben Menschen im westlichen Kulturkreis in weniger eingeschränkten Verhältnissen, schreiben die Forscher. Die Betonung von Unabhängigkeit erlaube es hier, dem Zusammenhang weniger Aufmerksamkeit zu schenken.

Menschen unterschiedlicher Kulturen sehen die gleiche Umgebung also schon von der untersten Wahrnehmungsstufe anders: Das Resultat sind buchstäblich verschiedene Weltanschauungen.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 23.8.05
->   Richard Nisbett, University of Michigan
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01.01.2010