News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Indien und China: Forschungsmächte der Zukunft  
  Nicht so sehr die niedrigen Arbeitskosten sind es, die Länder wie China und Indien nach Ansicht von Experten wirtschaftlich erstarken lassen. Vielmehr ihre großen Mengen an immer besser geschulten Fachkräften in Forschung und Entwicklung könnten sie bis Mitte des Jahrhunderts zu ökonomischen Supermächten machen. Bei den Technologiegesprächen beim Forum Alpbach Ende August wurde diesen Prognosen auf den Grund gegangen, einige Tipps für die zunehmend ins Hintertreffen geratenden Europäer gab es zur Draufgabe auch noch.  
Eine hochkarätig besetzte Expertenrunde diskutierte "Forschung, Entwicklung, Produktion - eine globale Neuordnung der Standorte". Mit zwei Vertretern, die derzeit in Singapur tätig sind, und zwei Indern war das Podium sehr ausgewogen besetzt.

Die Gemeinsamkeit des ganz kleinen Landes und des Subkontinents: Sie zählen beide zu den am stärksten aufstrebenden Nationen im Bereich Wissenschaft und Technologie.
Politik entscheidend für Wissenschaft und Technologie
Edison Tak-Bun Liu, Onkologe und Direktor des Genom-Instituts in Singapur, stellte klar, dass sich die Zukunft der Wirtschaftsentwicklung in eben diesem Bereich entscheidet.

Der Erfolg der Biomedizin-Industrie beruhe auf konkreten politischen Maßnahmen: u.a. einer starken öffentlichen Forschungsförderung und einer offenen Migrationspolitik - 60 Prozent der PhDs in den USA etwa seien nicht dort geboren, trotz derzeit restriktiver angewandter Einreisebestimmungen im Zuge des "Kriegs gegen Terror".
Potenzial für neue Medikamentenversuche
Der Molekularbiologe Alan Colman, bekannt geworden als "Vater" des Klonschafs "Dolly", ist seit Herbst 2002 Chef-Wissenschaftler von ES Cell International in Singapur.

Eines seiner schlagenden Argumente für den unaufhaltsamen Aufstieg der asiatischen Staaten in Sachen Biomedizin liegt im Bevölkerungsreichtum der Region: Da im Gegensatz zu den Staaten des Westens die meisten Menschen noch nicht in den Genuss von Medikamentenbehandlungen gekommen sind, gebe es hier quasi ein natürliches Potenzial für "unverfälschte" klinische Versuche.
Riesiger Pool an intellektuellem Kapital
Krishna Nathan, einer der führenden Wissenschaftler von IBM, mit Wurzeln sowohl in Indien als auch den USA, betonte einen anderen Aspekt der gerne auch als "innovative developing countries" (IDC) bezeichneten Länder, zu denen neben China und Indien auch Südafrika und Brasilien gehören.

Die geringen Arbeitskosten stehen bei multinationalen Konzernen nicht unbedingt im Mittelpunkt der Überlegung, ihre Forschungsagenden zunehmend in IDCs zu verlagern - wie es IBM etwa heuer im indischen Bangalore gemacht hat.

Die Arbeitskosten seien im Vergleich zu den (hohen) Fixkosten im F&E-Bereich nicht entscheidend - viel eher der große Pool an intellektuellem Kapital, an gut ausgebildeten Fachkräften.
Indien: Zwischen Dynamik und Armut
Ein Ausspruch, den sich Raghunath Anant Mashelkar auf der Zunge zergehen ließ. Er ist der Direktor des Rats für wissenschaftliche Forschung (CSIR) in Neu-Delhi und berichtete von seiner derzeit noch zweigeteilten Heimat: auf der einen Seite die ungelösten, aber auf dem Weg der Besserung befindlichen Probleme der Armut und des Analphabetentums, auf der anderen Seite die dynamische wachsende Wirtschaft, eng verbunden damit die Bereiche Forschung und Entwicklung.

Wird heuer damit gerechnet, dass 25.000 neue Doktoren und 300.000 Techniker das indische Bildungssystem verlassen, so werden es laut Mashelkar in zehn Jahren 60.000 bzw. 1,4 Millionen sein - also ein enormes "Humankapital".
...
Imposante Wachstumszahlen
Die amerikanische Zeitschrift "Business Week" widmete den beiden aufstrebenden Staaten China und Indien diese Woche ihre Titelstory - und eine Reihe aussagekräftiger Statistiken:
- Im Vorjahr wurden in Europa 34 Prozent des Weltwirtschaftsprodukts hergestellt, gefolgt von den USA mit 28 Prozent (China vier Prozent, Indien zwei). Im Jahr 2050 wird China (28 Prozent) die Spitze übernommen haben, vor den USA (26 Prozent), Indien (17 Prozent) und Europa (15 Prozent).
- Die Einkünfte im IT-Bereich Indiens sollen von derzeit 22 Milliarden US-Dollar auf 148 Mrd. bis 2012 ansteigen.
- Zur Zeit gibt es rund 50 Millionen Handy-Benutzer in Indien, bis 2009 werden es 350 Millionen sein.
->   Special in "Business Week"
...
Brain Drain und erste Gegentendenzen
Nach wie vor ein drängendes Problem für die Entwicklung Indiens ist der "Brain Drain": 300.000 Inder arbeiten laut Mashelkar im amerikanischen Silicon Valley, und gründen 15 Prozent aller Start-up-Unternehmen - jährlich generiert die indische Diaspora einen Wert von zwei Milliarden Dollar.

Während also nach wie vor viele Inder speziell aus dem IT-Bereich ihre Heimat in Richtung finanzkräftigerer Länder verlassen, gebe es mittlerweile auch einen gegenläufigen Trend. 20.000 von ihnen sind in den vergangenen drei Jahren zurückgekehrt, sagt Mashelkar.
Höchstes intellektuelles Kapital pro Dollar
Der Grund dafür liege nicht in den - international nach wie vor bescheidenen - Verdienstmöglichkeiten, sondern in der verstärkten intellektuellen Herausforderung für die Forscher. Zahlreiche große Unternehmen - von General Electrics über Intel bis zu IBM und Motorola - haben Forschungszentren in Indien, speziell in Bangalore eröffnet.

Daraus hätte sich bereits eine große Anzahl an Innovationen ergeben. Ein Beispiel: Von den weltweit knapp 750 Patenten, die Texas Instruments 2003 gemacht hat, stammen 225 aus Indien.

Mit den Worten des ehemaligen General-Electrics-Direktors John Welch: "In Indien bekommt man das höchste intellektuelle Kapital pro Dollar."
Europas trübe Aussichten
Während Indien und China ("chindia", wie es im angelsächsischen Raum heißt) also ein beispielloses Wirtschaftswachstum auf Basis von F&E vorausgesagt wird, sehen die Prognosen für Europa eher trüb aus.

Welche Maßnahmen gegen diese beinahe als Naturgesetze vorhergesagten Entwicklungen ergriffen werden können? Die Vertreter des Podiums griffen bei der Beantwortung auf bekannte Vorwürfe an den "europäischen Weg" zurück - mit einer Ausnahme.
Mehr Mobilität und Unternehmertum?
Krishna Nathan kritisierte die mangelnden Mobilität der Europäer - schon das Schielen auf unterschiedliche Pensionssysteme innerhalb des Kontinents würde oft einen längerfristigen Grenzübertritt verhindern - und ihr gering ausgeprägtes Unternehmertum. Einschränkungen seien in Europa oft wichtiger als Exzellenz, bemängelte Edison Tak-Bun Liu.
Oder neue Partnerschaften?
Raghunath Anant Mashelkar gab dem vorwiegend europäischen Publikum hingegen eine positive Vision auf den Weg: Angesichts des von der EU-Kommission prognostizierten Mangels an 700.000 Forschern in der Zukunft, solle verstärkt auf die Zusammenarbeit von Nationen gesetzt werden - "partnerships" z.B. mit Indien könnten zum Vorteil aller Beteiligten sein.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 25.8.05
->   Forum Alpbach
->   CSIR
->   ES Cell International
->   Genom-Institut in Singapur
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   Indien: Wissensmacht des 21. Jahrhunderts? (21.3.05)
->   science.ORF.at-Archiv zum Forum Alpbach
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010