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BSE-These: Erreger stammt von Menschen-Leichen  
  Der Grund für die Entstehung von BSE, umgangssprachlich als "Rinderwahnsinn" bezeichnet und als "Creutzfeldt-Jakob-Krankheit" (CJK) beim Menschen aufgetreten, ist bis heute nicht geklärt. Britische Forscher lassen jetzt mit einer neuen These aufhorchen: Der Erreger stamme ursprünglich von Indern, die an CJK gestorben sind und nach ihrem Tod nicht verbrannt, sondern in einen Fluss - meist in den Ganges - geworfen wurden. Ihr Skelett sei später nach Großbritannien exportiert und zu Tierfutter verarbeitet worden.  
Alan Colchester von der Universität Kent und Nancy Colcester von der Universität Edinburgh stellen in einer aktuellen Studie drei Annahmen zur Diskussion: erstens, dass BSE aus einer Form der "übertragbaren spongiformen Enzephalopathie" beim Menschen entstanden ist; zweitens, dass die Infektion mündlich durch Nahrungsergänzungsmittel für Rinder übertragen wurde, die mit menschlichen Resten verunreinigt waren; und drittens, dass der Ursprung dieser Verunreinigung in Indien liegt.
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Die Publikation "The origin of bovine spongiform enzephalopathy: the human prion disease hypothesis" von Alan und Nancy Colcester ist am 2. September 2005 im britischen Fachmagazin "The Lancet" erschienen (Band 366, S. 856-861).
->   "The Lancet"
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Prionen lösen Krankheiten aus
Übertragbare spongiforme Enzephalopathien (englisch Transmissible Spongiform Encephalopathy, TSE) sind Hirnerkrankungen, bei denen es zu einer schwammartigen Veränderung des Gehirngewebes kommt.

Sie treten sowohl bei Menschen als auch Tieren auf und werden durch Prionen verursacht - Prionen wurden auch als Erreger von BSE sowie der "menschlichen" Form, der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, identifiziert.
->   Mehr über TSE in Wikipedia.org
BSE-Verbreitung erklärt, aber Ursprung nicht
Die ersten Fälle einer TSE bei Rindern wurden in Großbritannien 1986 identifiziert, in den folgenden Jahren wuchs sich die Krankheit schnell zu einer Epidemie mit ihrem Höhepunkt 1992 aus. Nachdem sich die Seuche vorerst auf Rinder beschränkte, erhielt sie den Namen Bovine Spongiforme Enzephalopathie, BSE.

Dass sich die Krankheit so schnell verbreitete, führten Experten auf das Recycling von Resten erkrankter Tiere im Futter für gesunde Rinder zurück. Der Grund, warum BSE aber überhaupt entstanden ist, gilt bis heute als ungeklärt - und genau hier haken die britischen Forscher ein.
BSE: Ursprung beim Menschen?
Die britischen Forscher weisen darauf hin, dass TSE sowohl beim Menschen als auch beim Tier auftreten kann. Sie stellen die These auf, dass auch BSE vom Menschen auf die Rinder übertragen wurde und der Ursprung der Verunreinigung in Indien liegt.
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Untermauerung: Import von Knochen
Untermauerung für ihre These finden Alan und Nancy Colcester - Alan Colcester gilt in Großbritannien als einer der renommiertesten BSE-Experten - in den britischen Importzahlen. In den 1960er und 1970er Jahren führte Großbritannien tausende Tonnen von ganzen und zertrümmerten Knochen und Skelettteilen ein, um daraus Dünger und Tierfutter herzustellen. Rund die Hälfte der Knochen stammte aus dem Raum Bangladesh, Pakistan und Indien.

Während die zu Dünger verarbeiteten Knochen roh prozessiert wurden, sollte das Tierfutter sterilisiert werden - Dünger und Futter wurden aber oft von der gleichen Firma oder den Bauern selbst hergestellt, weshalb Überprüfungen durch Behörden immer wieder ergaben, dass es zu Vermischungen kam.
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Sammeln von Knochen als Erwerbsquelle
Das Sammeln und Verkaufen von Knochen war in Indien und Pakistan bis Ende der 1980er Jahre eine Haupterwerbsquelle für viele kleine Bauern. Gefunden haben sie am Land und in Flüssen nicht nur Skelette von Tieren, sondern auch von Menschen, schreiben Alan und Nancy Colcester.

Denn obwohl die Toten im Hinduismus eigentlich verbrannt werden sollen, können sich viele Menschen diese Zeremonie nicht leisten und werfen die Körper in Flüsse, wobei vor allem der Ganges als "Grab" dient.

Die gewagte These: Die Überreste dieser Menschen, unter denen sich auch CJK-Opfer befunden haben könnten, seien von den Knochensammlern gefunden und zur Verarbeitung als Tierfutter nach Großbritannien geschickt worden.
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Argumente für die abenteuerliche These
Als Untermauerung für ihre zugegebenermaßen abenteuerlich klingende These führen die Forscher folgende Argumente an:

- Bei einer Reinigung der Ganges im Jahr 2004 von Knochen wurden laut Angaben der durchführenden Umweltschutzorganisation auf einem nur zehn Kilometer langen Abschnitt 60 menschliche Leichen gefunden.

- 2001 wurde in Kalkutta ein Knochenexporteur dafür verurteilt, dass sich in seinem Material auch menschliche Überreste fanden. Die Knochen gingen in verschiedene Teile Indiens, Pakistans und in die USA.

- In den 1960er Jahren bestätigte ein Sanitätsaufseher eines Hafens am Ärmelkanal, dass sich menschliche Reste in einer Lieferung von Säugetierknochen aus Indien befunden hätten.
->   Ecofriends: Ganga is littered with corpses
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Großbritannien als Hauptimporteur
Die zu Tierfutter verarbeiteten infizierten Menschenreste hätten wiederum die Rinder krank gemacht, argumentieren Alan und Nancy Colcester.

Dass sich BSE gerade in Großbritannien so sprunghaft verbreitete, begründen sie damit, dass Großbritannien besonders viel Knochenmaterial aus Indien und Pakistan bezog und im Unterschied zu anderen Staaten auch Kälber schon mit Tiermehl fütterte.
CJK: Inoffizielle Zahlen höher als offizielle?
Und auch das Auftreten der Creutzfeld-Jakob-Krankheit in Indien halten sie für erwiesen: Obwohl nur 67 Fälle zwischen 1968 und 1997 offiziell registriert wurden, sei eine Unterschätzung wahrscheinlich.

Inoffizielle Zahlen würden von 150 Todesfällen pro Jahr in den 1960er und 1970er Jahren sprechen.
Kritik an These: Ungenaue Zahlen
Genau hier setzt die Kritik von Susarla Shankar und P. Satishchandra vom Nationalen Institut für Mentale Gesundheit und Neurowissenschaften im indischen Bangalore an. Sie zweifeln im "Lancet" an den Zahlen und sprechen von bisher 85 bestätigten CJK-Todesfällen während der vergangenen 37 Jahre.

Wenn ein Mensch im Krankenhaus stirbt, würde der Leichnam nicht nach Varanasi, die heilige Stadt am Ganges, mitgenommen, sondern verbrannt oder am Gemeindefriedhof begraben.
Keine Epidemie in Nordindien
Wenn tatsächlich Körper von CJK-Opfern im Ganges gewesen wären, hätte es in Nordindien zu einer Epidemie kommen müssen, kritisieren sie die Ihrer Meinung nach schlecht fundierte These der Briten.
Internationalen Knochenhandel überprüfen
In Einem sind sich aber alle einig: Weitere Forschung zur Frage, ob BSE tatsächlich vom Menschen ausgelöst worden sein könnte, sei dringend nötig.

Und wie Alan und Nancy Colcester hinzufügen: Besonders der globale Knochenhandel müsse so schnell wie möglich objektiv auf eine mögliche Verunreinigung durch Reste von Menschen geprüft werden. Sie schlagen die Weltgesundheitsorganisation als Träger einer derartigen Untersuchung vor.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 2.9.05
->   Website von Alan Colcester (Universität Kent)
->   College of Medicine and Veterinary Medicine (Universität Edinburgh)
->   WHO
->   Mehr zum Stichwort BSE im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010