News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Technologie .  Medizin und Gesundheit 
 
Tschernobyl: Folgen weniger schlimm als erwartet  
  Am 26. April 1986 hat sich der Super-GAU von Tschernobyl ereignet. Die Vereinten Nationen präsentieren nun einen Bericht über die Langzeitfolgen des schwersten Unfalls in der Geschichte der Atomenergienutzung. Überraschenderweise fallen die Prognosen der erwarteten Todesfälle und Krebserkrankungen viel niedriger aus als bisher befürchtet. Die Folgen für die Psyche der Betroffenen und die Wirtschaft sind laut den Experten gravierender. Den UNO-Bericht diskutiert das "Chernobyl Forum" heute in Wien.  
Die durch den Unfall freigesetzte radioaktive Strahlung könnte insgesamt bis zu 4.000 Menschenleben fordern (bereits erhobene und noch zu erwartende Todesfälle), bilanziert ein internationales Team von rund 100 Wissenschaftlern.

In den meisten Gebieten seien aber die wirtschaftlichen und psychischen Probleme der Betroffenen weitaus größer als die Folgen für Gesundheit und Umwelt.
...
Der Bericht "Chernobyl's Legacy: Health, Environmental and Socio-Economic Impacts" ist anlässlich der Konferenz "Chernobyl - Looking Back to Go Forwards" (6.-7. September 2005 in Wien) vom Chernobyl Forum veröffentlicht worden.

Bei der Konferenz diskutiert das Forum - Experten von internationalen Organisationen sowie Regierungsvertreter der durch den Unfall am stärksten betroffenen Staaten Weißrussland, Russland und der Ukraine - über die ökologischen, gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Katastrophe sowie politische Handlungsfelder.
->   Konferenz-Website
...
Umland weniger gefährdet als befürchtet
"Das war ein ernster Unfall mit großen gesundheitlichen Folgen - besonders für die Tausenden von Arbeitern, die der Strahlung in den ersten Tagen ausgesetzt waren", sagt Burton Bennett, Vorsitzender des Chernobyl Forums, in einer Aussendung.

Doch die Experten hätten in der aktuellen Untersuchung keine schweren negativen Gesundheitsfolgen für den Rest der Bevölkerung ausmachen können, die in der Umgebung des beschädigten Atom-Reaktors leben.

Auch gäbe es keine Hinweise auf eine weit verbreitete Kontaminierung, die auch in Zukunft die Gesundheit der Menschen gefährdet - mit einigen Ausnahmeregionen.
Bis zu 4.000 Strahlenopfer möglich
Laut der UN-Studie hat die hohe radioaktive Strahlung vom ersten Tag des Unfalls rund 1.000 Arbeiter des Atomkraftwerks und Notfall-Helfer schwer getroffen. 50 Arbeiter starben an den Folgen.

Von den mehr als 200.000 Notfall- und Aufbauarbeitern, die in dem Jahr nach dem Unfall der Strahlung ausgesetzt waren, könnten geschätzte 2.200 durch Strahlung verursachte Todesfälle auftreten.

Bei den in der stark kontaminierten Zone lebenden 600.000 Personen - einschließlich der von 1986 bis 1987 aktiven Nothelfer, Evakuierten und Siedler - erwarten die Experten 4.000 Todesfälle.

Im Vergleich zu früheren Prognosen fällt diese eher niedrig aus: "Die Gesundheitsfolgen für die Öffentlichkeit waren nicht annähernd so gravierend wie zuerst befürchtet", kommentiert Michael Repacholi, Manager des "Radiation Programs" der WHO, die neuesten Zahlen.
Fünf Millionen leben auf kontaminierten Flächen
Laut Experten leben heute noch rund fünf Millionen Personen in den radioaktiv verseuchten Gebieten in Weißrussland, Russland und der Ukraine, von diesen 100.000 auf Flächen, die von den Regierungen unter strenge Kontrolle gestellt worden sind.

Die meisten Notfallhelfer und Personen, die auf kontaminierten Flächen leben, weisen laut der Studie jedoch nur eine relativ geringe Menge an Strahlung im Körper auf.

Es gäbe keine Beweise für eine Abnahme der Fruchtbarkeit unter der Bevölkerung, auch könnten keine angeborenen Missbildungen einer Aussetzung von Radioaktivität zugeschrieben werden.
Gute Überlebensrate bei Schilddrüsenkrebs
Rund 4.000 Fälle von Schilddrüsenkrebs sollen durch die Kontaminierung aufgetreten sein, dabei vor allem bei Kindern und Erwachsenen zur Zeit des Unfalls.

Der Untersuchung nach sind neun Kinder an Schilddrüsenkrebs gestorben. Die Überlebensrate der Krebspatienten liegt - auf Erfahrungen aus Weißrussland beruhend - bei 99 Prozent.

"Das Team internationaler Experten hat keinen Beweis für Anstiege von Leukämie und Krebs unter den Betroffenen gefunden", bekräftigt Repacholi die Studienergebnisse.
Eher mentales Problem
Laut der Studie gibt es in Weißrussland, Russland und der Ukraine viel größere Gefahren als die der radioaktiven Kontaminierung, etwa Armut, auf Lebensstil zurückzuführende Krankheiten und mentale Probleme.

Rund 350.000 Personen hätten traumatische Erfahrungen davon getragen, als sie aus den verseuchten Gebieten umgesiedelt wurden.

Mythen und falsche Vorstellungen von der Gefahr radioaktiver Strahlung haben laut Experten zu einem "lähmenden Fatalismus" geführt.

Eine negative Wahrnehmung der eigenen Gesundheit, der Glaube an eine geringere Lebenserwartung, geringe Initiativbereitschaft und eine Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung wären die Folgen der großen seelischen Belastung und von Informationsmangel.
Geringere Folgen für Umwelt
Größere Freisetzung der Radionuklide kontaminierten vor fast 20 Jahren mehr als 200.000 Quadratkilometer Europas. Der Fallout hielt zehn Tage lang an.

Doch auch die Umweltschäden sind laut Expertenmeinung geringer als befürchtet: Ausgenommen der nach wie vor hoch kontaminierten Fläche im 30-Kilometer-Radius um den Reaktor und einiger nahe gelegener Seen und Wälder (alle Sperrgebiet), sind die Strahlenwerte anderenorts in den meisten Fällen wieder auf ein akzeptierbares Niveau gesunken.
Update politischer Programme notwendig
Aufbauend auf die Studie sprechen die Experten Empfehlungen für politische Aktionen in Weißrussland, Russland und in der Ukraine aus: u.a. die Neudefinition von "Gefahrenzonen", die Neu-Formulierung von sozialen Programmen, eine Stabilisierung der strukturellen Elemente des Reaktor-"Sarcophags" sowie ein Plan zur Entsorgung der Tonnen von hochgradig verseuchtem Abfall in und um die Anlage.
Scharfe Kritik von Gesundheits- und Umwelt-NGOs
Der UNO-Bericht stieß auf scharfe Kritik der Organisationen "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs" (IPPNW) und Greenpeace.

Die IPPNW prangerten die enge Verbindung zwischen der WHO und der UN-Atombehörde IAEO an, die sich die weltweite Förderung der friedlichen Nutzung der Atomenergie auf die Fahnen geschrieben hat. Einige Aussagen der UN-Behörden seien "nachweislich falsch".

So leugne sie den "massiven Anstieg an Schilddrüsenkrebsfällen bei Erwachsenen und die Anstiege bei anderen Krebsarten".
Greenpeace: Weißwaschung eines schweren Unglücks
Greenpeace- Atomexperte Thomas Breuer sprach in Hamburg von einer "Verharmlosung der Reaktorkatastrophe, die dem Fass den Boden ausschlägt". Das ukrainische Gesundheitsministerium habe bereits 2002 von etwa 15.000 Todesopfern allein unter den "Liquidatoren", die an den Aufräumarbeiten beteiligt waren, gesprochen.

"Es ist erschreckend, dass die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) die Auswirkungen des schwersten Industrieunglücks der Geschichte weißwäscht", heißt es in einer Greenpeace-Erklärung vom Dienstag.
Zu wenige Menschen einbezogen, zu kleiner Radius
So seien für die Ermittlung der Toten unter den so genannten Liquidatoren nur 72.000 russische Arbeiter berücksichtigt worden, von denen nach dem Einsatz am Atommeiler 212 starben.

Es habe jedoch schätzungsweise rund 600.000 Liquidatoren in Weißrussland, Russland und der Ukraine gegeben. Der IAEA-Bericht werte einen viel zu kleinen Radius um den Unglücksort aus, das Schicksal von Millionen von Europäern werde nicht berücksichtigt.

Das "Verneinen der wirklichen Auswirkungen" sei einerseits "beleidigend für Tausende von Opfern", kritisierte Greenpeace-Atom-Experte Jan van de Putte. Darüber hinaus führe es zu "gefährlichen Empfehlungen" etwa bei der Wiederbesiedelung verseuchter Gebiete.

[science.ORF.at, 6.9.05]
->   Die Katastrophe von Tschernobyl bei Wikipedia
->   Health consequences of the Chernobyl accident / WHO
->   Artikel zum Stichwort Tschernobyl im science.ORF.at-Archiv:
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Technologie .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010