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Gehirn: Kulturelle Fähigkeiten durch Gen-Mutationen?  
  Der Mensch hält sich gern für die Krone der Schöpfung, die man nicht verbessern kann. Neue Forschungsarbeiten zeigen aber, dass der Grund für die angenommene Spitzenstellung, das Gehirn, wahrscheinlich auch heute noch evolutionären Veränderungen unterworfen ist. US-Wissenschaftler konnten zwei Gene identifizieren, die für die Gehirngröße verantwortlich sind und vor evolutionsbiologisch nicht allzu langer Zeit mutierten.  
Dünnes argumentatorisches Eis
Die Forscher begeben sich mit ihrer Arbeit auf dünnes argumentatives Eis: Nachdem die Gene durch ihre Mutationen das Gehirn schneller wachsen ließen, könnten ihre Veränderungen auch den Ausschlag für kulturelle Errungenschaften des Menschen gegeben haben - wie die Entwicklung handwerklicher Fähigkeiten oder die Gründung von Städten.

"Völlig spekulativ", kritisieren Fachkollegen. Die Diskussion über biologische Grundlagen für kulturelle Leistungen kann in die nächste Runde gehen.
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Im Wissenschaftsmagazin "Science" (Band 309) sind am 9. September 2005 zwei Studien zum Thema "Gene und Gehirngröße" erschienen, bei beiden scheint Bruce Lahn vom Howard Hughes Medical Institute als leitender Forscher auf: "Ongoing Adaptive Evolution of ASPM, a Brain Size Determinant in Homo sapiens" (S. 1720-1722, DOI: 10.1126/science.1116815) und "Microcephalin, a Gene Regulating Brain Size, Continues to Evolve Adaptively in Humans" (S. 1717-1720, DOI: 10.1126/science.1113722).
->   Science
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Großes Gehirn, umfassende kognitive Fähigkeiten
Durchschnittlich 1.350 Kubikzentimeter groß ist das menschliche Gehirn, relativ das größte derartige Organ bei Tieren. Die außergewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten des Menschen und die Größenzunahme stehen in direktem Zusammenhang, ist sich die Wissenschaft einig.

Eine Forschergruppe rund um den Humangenetiker Bruce Lahn glauben nun zwei Gene identifiziert zu haben, die das Wachstum des Gehirns maßgeblich bestimmt haben und bis heute Mutationen unterworfen sind.
Zwei Gene, die Wachstum des Gehirns stören können
Die Wissenschaftler konzentrierten sich auf zwei Gene, die beide im Fall einer Störung Mikrozephalie auslösen können: Das Gehirn bleibt bei dieser Erkrankung zu klein.

Die Forscher suchten nach Veränderungen des Mikrozephalin und des ASPM- (Abnormal Spindle-like Microcephaly-Associated) Gens. Schon bisher war durch Arbeiten unter anderem von Bruce Lahn bekannt, dass die Mutationen beider Gene offensichtlich durch evolutionären Druck während der Entwicklung zum Menschen beschleunigt wurden.
->   Mehr über Mikrozephalie in Wikipedia.de
Mutationen vor relativ kurzer Zeit
Aber auch nach der Trennung von Menschen und Affen kam ihre Veränderung nicht zum Erliegen, im Gegenteil: Bei beiden Genen konnten die Forscher eine Mutation vor - evolutionsbiologisch - kurzer Zeit nachweisen.

Eine neue Variante des Mikrozephalin entstand vor 37.000 Jahren, heute weisen sie 70 Prozent der Bevölkerung auf. Das ASPM-Gen veränderte sich vor 5.800 Jahren noch einmal deutlich und verbreitete sich seither unter 30 Prozent der Bevölkerung.
Evolutionärer Vorteil unklar
Diese Zeiträume sind für Evolutionsbiologen "extrem kurz", das heißt, der Selektionsdruck muss sehr groß gewesen sein. Was genau den Vorteil darstellt, der durch die Mutation ausgelöst wurde, können die Forscher zwar nicht sagen. Die rasche Verbreitung der neuen Varianten spricht aber für seine Existenz.

Und die Erkenntnis könnte auch bedeuten, dass unser Gehirn noch heute Veränderungen unterworfen ist, die es sich an seine Umgebung besser anpassen lassen.
Zusammenhang Mutationen und kulturelle Entwicklung?
Schon an dieser Unklarheit entzündet sich Kritik von Fachkollegen, die aber noch heftiger wird, wenn es um die zweite Erkenntnis der Forschergruppe um Bruce Lahn geht: Sie stellen fest, dass die Mutationen der beiden Gene zu Zeitpunkten stattfanden, die auch für die kulturelle Entwicklung der Menschheit wichtig waren.

Die Mutation des Mikrozephalin fiel in eine Zeit, in der sich auch Kunst und Musik sowie handwerkliche Fähigkeiten rasant verbreiteten. Die neue Variante des ASPM-Gens sei zirka in jener Zeit entstanden, als auch die älteste bekannte Zivilisation langsam ihren Aufschwung nahm: Mesopotamien.
Kritik: "Höchst spekulativ"
Die Kritiker, die in einem die Studien begleitenden Artikel zu Wort kommen, zweifeln an der These, dass die Mutationen der zwei "Gehirn-Gene" einen dramatischen Selektionsvorteil gebracht hätten.

Alle Menschen sind fähig, Sprachen zu sprechen und symbolisch zu kommunizieren, egal über welche Gen-Variante sie verfügen. Der Zusammenhang zwischen den genetischen Veränderungen und kulturellen Errungenschaften sei "höchst spekulativ".
Auswirkungen der anhaltenden Mutationen unklar
Welche Auswirkungen die wahrscheinlich noch anhaltenden Veränderungen der "Gehirn-Gene" zeigen werden, sei unklar, schreiben Bruce Lahn und Kollegen in einer Presseaussendung der Universität Chicago.

Es müsse nicht bedeuten, dass die Menschheit klüger wird, schließlich habe sie auch "Gene für Egoismus, Gewalt und Grausamkeit entwickelt" - einfach nur, weil sie das Überleben erleichtern.
Primat der Natur oder Vorherrschaft der Kultur?
Wissenschaftler, die davon ausgehen, dass gerade die genannten Eigenschaften auch ein Produkt der sozialen Umgebung sein können, lässt diese Aussage gruseln.

Eines ist jedenfalls sicher: Die Diskussion über das Primat der Natur versus die Vorherrschaft der Kultur hat wieder neue Nahrung bekommen.

[science.ORF.at, 9.9.05]
Ältere Forschungsarbeiten von Bruce Lahn zum Thema:
->   Studie "Adaptive evolution of ASPM" (Human Molecular Genetics)
->   "Reconstructing the evolutionary history of microcephalin" (Human Molecular Genetics)
->   Hughes Medical Institute
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   Erbgut des Schimpansen entziffert (31.8.05)
->   Sprechen über Kultur in biologischen Begriffen (23.3.04)
->   Die molekulare Evolution des "Sprach-Gens" (14.8.03)
 
 
 
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01.01.2010