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Sprache als politisches Phänomen  
  Am 26. September wird der "Tag der Sprachen" europaweit begangen. Wenigen ist dabei bewusst, welche Geschichte hinter jenem Konzept steht, das heute gemeinhin als (eine) Sprache bezeichnet wird. Tomasz Kamusella hat in einem interdisziplinären Ansatz am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) der engen Verbindung von Sprache und Nationalismus nachgespürt. In seinem Gastbeitrag gibt er einen Überblick über weniger bekannte Zusammenhänge. Denn eine Sprache, so Kamusella, ist vor allem ein politisches Phänomen.  
Sprache und Nationalismus

Von Tomasz Kamusella

Jeder Mensch spricht eine bestimmte Sprache. Dieses Phänomen ist so offensichtlich, dass es die Sprache zu einer Kategorie macht, der man meist wenig Gedanken widmet.

Tatsächlich herrscht auch unter Linguisten kein Konsens darüber, wie die Definition einer Sprache lautet. Denn eine Sprache ist vor allem ein politisches, und nicht etwa ein linguistisches Phänomen.
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The Triple Division of the Slavic Languages
Ein Working Paper von Tomasz Kamusella wurde kürzlich auf der Website des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) publiziert: "The Triple Division of the Slavic Languages: A Linguistic Finding, a Product of Politics, or an Accident?".
->   Working Paper von Tomasz Kamusella (pdf)
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Standard durch Wörterbücher und Co
Redet man heute von einer Sprache, so meint man stillschweigend eine geschriebene Sprache, die durch Wörterbücher, Grammatiken und den Gebrauch dieser Sprache in Administration und Bildung standardisiert ist.

Solche Sprachen entstanden notwendigerweise in Machtzentren (etwa Hauptstädten), in denen Eliten diese sprachen und schrieben sowie darüber hinaus beträchtliche Anstrengungen unternahmen, um sie zu standardisieren und unter der im jeweiligen Staatsgebiet lebenden Bevölkerung zu verbreiten.

Der moderne Staat alleine (laut Eigendefinition ein Nationalstaat) war in der Lage, dieses Programm zur Standardisierung einer Sprache durchzuführen und diese zur offiziellen Sprache des Gemeinwesens zu machen, die der gesamten Bürgerschaft vertraut war.
"Geiseln" des nationalen Interesses
Gegenwärtig definieren sich alle bestehenden Staaten (mit wenigen Ausnahmen wie etwa dem Vatikan) als Nationalstaaten. Dies macht die Standardsprachen gewissermaßen zu "Geiseln" des nationalen Interesses - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß.

Tatsächlich wurden in den meisten Europäischen Staaten komplexe Gesetzeswerke geschaffen, um die unangefochtene Vorherrschaft der jeweiligen nationalen Sprachen sicherzustellen.
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Gegenbeispiel USA
In den USA hingegen existiert nicht ein einziges Bundesgesetz, das Englisch zur offiziellen Sprache des Staates machen würde. Die Praxis alleine - die Nutzung von Englisch in Administration, Bildung und öffentlichem Leben - hat der Sprache in den USA de facto offiziellen Status verliehen.

In einem Beitrag für das Journal "Canadian Review of Studies in Nationalism" hat Tomasz Kamusella die Ähnlichkeit der beiden Konzepte "Nation" und "Sprache" ausfürlich untersucht: "On the Similarity Between the Concepts of Nation and Language".
->   Das Paper zum Nachlesen (pdf)
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Bloomfields Definitonsversuch
1926 schlug der US-Linguist Leonard Bloomfield vor, Sprachen zu definieren als "mutually unintellegible" (in etwa: "beiderseitig nicht verständlich", Anm.).

Doch es gibt beispielsweise keine Kommunikationsprobleme zwischen Niederländisch und Plattdeutsch - was weder letzteres zum niederländischen Dialekt macht, noch gar Niederländisch zur deutschen Mundart.

Auch Tschechisch und Slowakisch sind sich sehr ähnlich, praktisch gegenseitig verständlich. Moldawisch und Rumänisch wiederum sind identisch; doch die politische Realität macht sie zu zwei verschiedenen Sprachen der beiden Nationalstaaten.
->   Mehr zu Leonard Bloomfield (wikipedia.org)
Bedeutung für den Nationalismus
Die politische Bedeutung von Sprache für den mitteleuropäischen Nationalismus lässt sich schwerlich überbewerten.

Als etwa zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und 1830 die Nationalstaaten in Westeuropa und auf dem amerikanischen Kontinent entstanden, diente die Sprache zunächst nicht notwendigerweise als signifikanteste Basis des entsprechenden Nationalismus.

Die meisten Lateinamerikanischen Staaten teilen sich Spanisch als ihre nationale Sprache, genauso wird Englisch von Amerikanern und Briten gleichermaßen verwendet.
Deutsch als "ideologisches Rückrat"
Hingegen wurden Italienisch und Deutsch (nach Johann Gottfried Herders Überlegungen zur Sprache) zum jeweiligen ideologischen Rückrat der beiden Nationalstaaten, als diese 1860 und 1871 gegründet wurden.

Weder im italienischen, noch im deutschen Fall war die Ideologisierung von Sprache absolut: Die Italiener teilen ihre "Muttersprache" mit den Schweizern, die Deutschen mit Österreich, Liechtenstein, Luxemburg und der Schweiz.

Doch das Italienisch-deutsche Modell eines ethnolinguistischen Nationalismus verbreitete sich mit den Revolution von 1848 in Mitteleuropa. Der große Unterschied: Nun wurde die politische Idealisierung jener engen Verbindung von Sprache und Nation tatsächlich absolut.
Ein Modell mit Folgen
Um als Nation anerkannt zu werden, muss demnach eine Gruppe von Menschen "nachweisen", dass man über eine eigene Sprache verfügt, die die postulierte Nation nicht mit einer anderen teilt.

Diese "linguistisch geschlossenen" Nationen wurden nach 1918 ihrer eigenen Nationalstaaten für wert befunden, und zwar Estland, Jugoslawien, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn.
Mehrsprachigkeit als Problem
Das Problem war allerdings, dass die Tschechoslowakei und Jugoslawien mehrsprachig waren.

Die Tschechoslowakische Verfassung (1920) löste dieses Dilemma, indem sie die Tschechoslowakei zum Nationalstaat der Tschechoslowaken erklärte, die eine Sprache - Tschechoslowakisch - sprachen.

Ähnlich legte die Jugoslawische Verfassung (1921) das Gemeinwesen als Nationalstaat von Serbokroaten und Slowenen fest, die durch ihre eine Sprache Serbokroatoslowenisch verbunden waren.
->   Language as an Instrument of Nationalism (Abstract)
Vom Kommunismus zur Unabhängigkeit
In der kommunistischen Zeit wurde die ethnolinguistische Homogenität mitteleuropäischer Nationalstaaten noch gefestigt durch Vertreibungen, Bevölkerungswechsel und erzwungene Assimilierung.

Nach dem Sowjetischen Modell wurden Jugoslawien und die Tschechoslowakei 1945 und 1969 in Föderationen ungewandet, die aus nationalen Republiken bestanden. Die von der Sowjetunion annektierten Baltischen Republiken verschwanden von der Landkarte.

Als diese Republiken ihre Unabhängigkeit 1991 zurück gewannen, versuchten sie ihre Eigenstaatlichkeit zu untermauern, indem der Gebrauch der nationalen Sprachen gegenüber dem zuvor dominanten Russisch stark gefördert wurde.
Die "neue" Sprachvielfalt
Aus dem linguistischem Blickwinkel war die Teilung der Tschechoslowakei 1993 in die Tschechische Republik und die Slowakei rasch zu bewältigen, da das Konzept einer Tschechoslowakischen Sprache schon 1945 aufgegeben worden war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch das jugoslawische Serbokroatoslowenisch zu Serbokroatisch, Slowenisch und Mazedonisch. Der blutige Zusammenbruch 1991-1995 führte schließlich zur Teilung von Serbokroatisch in Kroatisch, Bosnisch und Serbisch.

Und 2006 könnte die Montenegrinische Sprache entstehen, sollten Montenegro und Serbien ihr Bündnis nicht erneuern.
->   Gesetzgebung zu offiziellen Sprachen in Bosnien (19./20. Jh.)
Nationale Sprachen in der EU
Die meisten offiziellen bzw. Staatssprachen, die in den EU-Mitgliedsstaaten verwendet werden, sind nationale Sprachen. Doch es gibt Inkonsistenzen:

1985 wurde Luxemburgisch als nationale Sprache Luxemburgs verkündet, zusätzlich zu den offiziellen Sprachen Deutsch und Französisch. Ähnlich ist Irisch (Gaelisch) Irlands nationale Sprache, Seite an Seite mit dem offiziellen Englisch. Weder Luxemburg noch Dublin verlangen jedoch von der EU, ihre nationale Sprache zu verwenden.
->   Die offiziellen EU-Sprachen (europa.eu.int)
->   European Bureau for Lesser Used Languages
Maltesisch zählt zum Klub
Hingegen sind die nationalen Sprachen aller anderen Mitgliedsstaaten zugleich offizielle Sprachen der EU. In diesem exklusiven Klub steht also Maltesisch mit 300.000 Sprechern neben Deutsch, das von 100 Millionen Muttersprachlern verwendet wird.

Katalanisch hingegen, das von etwa sechs Millionen Menschen gesprochen wird, ist eine Minderheitensprache - denn Katalanisch ist in keinem EU-Mitgliedsland als offizielle Sprache anerkannt.
Ein Element im Machtspiel
Es sind also die Nationalstaaten, die die Regeln eines Machtspiels bestimmen, das als "International Relations" bekannt ist. Sprachen sind letztlich ein Element in diesem Spiel.

[26.9.05]
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Informationen zum Autor
Tomasz Kamusella ist Ao. Professor am Institut für Ostslawische Philologie der Polnischen Universität Opole und war von Juli bis Mitte September 2005 Andrew W. Mellon Fellow am IWM in Wien. Er arbeitete dort an seiner Habilitationsschrift: "The Politics of Language and Nationalisms in Central Europe During the 19th and 20th Centuries". Kamusella ist Ko-Editior des zweibändigen englischsprachigen Sammelbandes "Nationalism Across the Globe" (2005).
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
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01.01.2010