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Soziologie heute: Prekäre Arbeit, wenig Widerstand  
  Das Arbeitsverständnis junger Sozialforscher hat sich grundlegend gewandelt. Gedanken an einen sicheren Job liegen fern, die meisten schlagen sich mit kurzfristiger Projektarbeit durch. Zunehmende Abhängigkeit von Auftraggebern bedroht auch die inhaltliche Qualität der Forschungsarbeiten. Die Soziologin Elisabeth Simbürger hat die Arbeitsbedingungen ihrer jungen Kollegen erforscht und präsentiert die Ergebnisse in einem Gastbeitrag sowie am Soziologiekongress in Wien.  
Den Stillstand bewegen. Praxis der Soziologie
Von Elisabeth Simbürger

Unter welchen Rahmenbedingungen arbeiten SoziologInnen heute, wie findet Soziologie als Beruf statt, welche Erwartungen werden an die Soziologie herangetragen? Das sind die Fragen, die beim diesjährigen Soziologiekongress diskutiert werden sollen.

Die Innensicht auf die eigene Disziplin und ihre Produktionsbedingungen wird häufig vernachlässigt. Zu Unrecht, wie tief greifende Veränderungen im Hochschul- und Forschungsförderungswesen und in den Arbeitsbedingungen von SozialforscherInnen zeigen.
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Soziologiekongress in Wien
Der diesjährige Soziologiekongress von 22. bis 23. September in Wien steht unter dem Motto "Den Stillstand bewegen. Praxis der Soziologie". Die Konferenz will vor allem Diskussionsforum für junge SozialforscherInnnen sein.
->   Mehr zum Kongress auf der Website des "Zentrums für Soziale Innovation"
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Forschung geprägt von atypischer Beschäftigung ...
Atypische Beschäftigungsverhältnisse, Evaluierung und Performance Measurement sind heute im Forschungsbereich fest verankert und spiegeln einen generellen Wandel in der Arbeitswelt wieder.

Insbesondere junge SozialforscherInnen erleben freie Dienstverträge, Werkverträge und befristete Formen der Beschäftigung zunehmend als Normalität im Wissenschaftsberuf.
... und Evaluation
Zudem sind WissenschafterInnen zunehmend mit Evaluation und Performance Measurement konfrontiert.

Öffentliche und private Sponsoren wollen nicht nur ihre Interessen in Forschung verankert sehen, sondern verlangen entsprechend dem "value-for-money-paradigm" auch Rechenschaft über die Verwendung der von ihnen gestifteten finanziellen Mittel.
SoziologInnen als "Secondhand Consultants"
Fehlende finanzielle Mittel führen dazu, dass sich SozialforscherInnen dem Druck, den Interessen von oftmals privaten AuftraggeberInnen gerecht zu werden, beugen.

Dies kann zu Lasten soziologischer Analysekraft gehen. SoziologInnen laufen so Gefahr, zu "Secondhand Consultants" unter dem Deckmantel von Wissenschaftlichkeit zu werden.
Selbstverständnis und Handlungsstrategien
Eine britische explorative Studie ist der Frage nachgegangen, wie junge SozialforscherInnen sich und ihre Arbeit angesichts der Veränderungsprozesse im Hochschulwesen sehen. Wie ist der nachhaltige Konsens über herrschende Arbeitsbedingungen zu erklären?
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Die Ergebnisse dieser Studie sind in der Abschlussarbeit von Elisabeth Simbürger zu finden: "The Academic Labour Process and Knowledge Production in the Social Sciences - an Exploratory Study of Young Post Doc Researchers in England", Universität Warwick, 2005, noch nicht erschienen.
->   Department für Soziologie der Universität Warwick
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Internalisierung von Stress
Die Interviewergebnisse deuten darauf hin, dass massiver Leistungsdruck, hoher Arbeitseinsatz und die stetige Spannung zwischen Kommerzialisierung und akademischer Brillanz zum Teil bereits als dem akademischen System immanent verstanden werden, anstatt als Resultat der Kommerzialisierung von Forschung.

Die Generation der 20 bis 35-jährigen ForscherInnen hat nie ein anderes Arbeitsumfeld erlebt. Druck und kontinuierlicher Stress werden als Bestandteil akademischen Alltags erlebt. SozialwissenschafterInnen scheinen jedoch zu sehr mit der Sicherung des Lebensunterhaltes und dem Kampf um den nächsten Forschungsauftrag beschäftigt, um gemeinsam über Alternativen nachzudenken.
Zeichen des Protests sind die Ausnahme
Protest stellt eher eine Ausnahme dar. Mehrere österreichische Sozialforschungsinstitute haben sich gemeinsam in einer Petition an die europäische Union gewandt um auf die herrschenden Forschungsförderungsbedingungen und die Arbeitsrealität von SozialforscherInnen hinzuweisen.
->   Zur Petition
Motive für hohen Arbeitseinsatz: Sozialer Status?
Schlechte ökonomische und soziale Absicherung sowie fehlende Karriereaussichten verlangen nach anderen Erklärungsmustern für hohen Arbeitseinsatz.

Sozialer Status scheint als Motiv wenig plausibel, denkt man an das Klischee vom Soziologen als Taxifahrer.
Wissenschaft als Job oder Passion?
Zweifelsohne kann Sozialforschung eine sinnstiftende Tätigkeit sein. Das Bild von intellektueller Erfüllung als Lohn hat aber auch die Funktion, strukturelle Defizite in der Organisation wissenschaftlicher Arbeit wett zu machen. Wissenschaft wird weniger oft im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses zum Zwecke der Lebensunterhaltsicherung verstanden.

Die Internalisierung von Druck als Bestandteil wissenschaftlichen Lebens dient als Nährfläche für die Implementierung von "Human Resource"-Strategien. Negative Arbeitsbedingungen werden so positiv umgemünzt und als wissenschaftliches Entrepreneurship mit ForscherInnen als Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft und Ideen, dargestellt.
Analog zu "Fairtrade" "Fair produzierte Wissenschaft"
Um im Zertifizierungsjargon des "Human Resource Managment" zu sprechen, würde die Iso-Zertifizierung von Arbeitsbedingungen in der Sozialforschung ein attraktives Gedankenexperiment darstellen.

Vergleichbar dem Erwerb von gerecht gehandeltem, so genanntem "Fairtrade"-Kaffee könnten AuftraggeberInnen und somit KonsumentInnen sozial verantwortlich produziertes sozialwissenschaftliches Wissen kaufen.

Es scheint, als ob die Soziologie genügend Grund zur Selbstreflexion hätte. Das Verständnis der eigenen Disziplin und ihrer Arbeitsbedingungen ist als Handwerkszeug für die verbesserte Analyse gesellschaftlicher Probleme zu sehen. Dies könnte ein erster Schritt jenseits des Stillstands sein.

[21.9.05]
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Zur Autorin Elisabeth Simbürger
Geboren 1976 in Judenburg, Studium der Soziologie an der Universität Wien und der Universität Bielefeld von 1995 bis 2001. Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim "Institute for Social Research and Analysis" (SORA) in Wien mit Schwerpunkt Arbeitsforschung von 2001 bis 2004. Von September 2004 bis September 2005 Mitarbeiterin in "Comparative Labour Studies" an der University of Warwick. Ab September 2005 PhD in Soziologie an der Universität Warwick und Mitarbeiterin im "Reinvention Centre for Undergraduate Research".
->   Reinvention Centre for Undergraduate Research
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Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   'Die Überflüssigen': Überflüssiger Soziologie-Begriff? (15.7.05)
->   Prekäre Aussichten - prekarisierte Forscher (29.4.05)
->   Neue Selbstständigkeit: "Prekariat" verändert die Welt (29.4.05)
 
 
 
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01.01.2010