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Identifikation von Sprachfamilien durch "Urgene"  
  Die Verwandtschaft von Sprachen kann durch die Analyse des Wortschatzes zwischen 2.000 und maximal 8.000 Jahre zurückverfolgt werden. Was aber tun, wenn die Aufsplitterung einer Ursprache schon in der Eiszeit, also vor über 10.000 Jahren, passierte? Dann sollte man sich laut einer aktuellen Studie dem "Erbgut" einer Sprache, das heißt ihrer grammatikalischen Struktur zuwenden.  
Besiedelung der Erde durch Sprachanalyse nachvollziehen
Mit ihrer Hilfe könnten Stammbäume von Sprachen erstellt werden, die ähnlich wie in der Evolutionsbiologie weit in die Vergangenheit zurückreichen, erklärt Michael Dunn vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in den Niederlanden.

Ein interdisziplinäres Team aus niederländischen Linguisten und britischen Evolutionsbiologen der Universität Cambridge erstellte eine umfassende Datenbank struktureller Merkmale der Sprachen Melanesiens und wies damit Verwandtschaftsverhältnisse nach. Neben der Genetik und der Archäologie könnte diese Methode unser Wissen über die Besiedelung der Erde um wichtige Aspekte ergänzen.
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Die Studie "Structural Phylogenetics and the Reconstruction of Ancient Language History" von Michael Dunn und Kollegen ist am 23. September 2005 in "Science" erschienen (Band 309, S. 2072-2075, DOI: 10.1126/science.1114615).
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Suche nach linguistischen Spuren
Linguistische Spuren sind in ihrer Aussagekraft, wenn es um die Wanderungsbewegungen unserer Vorfahren geht, genauso wichtig wie der Nachweis genetischer Verwandtschaft.

So spiegelt sich die gemeinsame Abstammung der Bewohner von weit entfernt liegenden Inseln ihrer Sprache: "Hand" heißt auf Hawaii und Samoa lima, den Marquesas-Inseln (Französisch-Polynesien) 'ima und auf Tahiti rima.
Wortschatzanalyse stößt an zeitliche Grenzen
Also nichts leichter, als die Menschheitsgeschichte aus dem Blickwinkel der Linguistik zu schreiben? Nicht ganz. Denn um Verwandtschaft nachzuweisen, müssen die Sprachwissenschaftler oberflächliche von ursprünglichen Ähnlichkeiten unterscheiden.

Sie suchen daher nach "Kognaten", weit in die Sprachgeschichte zurückreichende Gemeinsamkeiten. Diese im Wortschatz zweier Sprachen zu identifizieren, ist eine langwierige und komplizierte Angelegenheit und wird durch den ständigen Wandel noch zusätzlich erschwert: Die meisten Linguisten gehen davon aus, dass es nach 8.000 bis 10.000 Jahren unmöglich ist, zwischen Kognaten und zufälligen Ähnlichkeiten etwa durch Lehnwörter zu unterscheiden.
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Gedankenexperiment
Man nehme an, dass das Vokabular zweier Sprachen zu 80 Prozent auf eine gemeinsame Wurzel zurückgeführt werden kann. Nach 1.000 Jahren wäre die Gemeinsamkeit auf 64 Prozent geschrumpft, nach 2.000 Jahren auf 41 Prozent und nach 10.000 Jahren wäre nur noch ein Prozent übrig, die Verwandtschaft wäre kaum nachzuweisen, erklärt der Psychologe Russel Gray von der Universität Auckland (Neuseeland) in einem die Studie begleitenden Kommentar in "Science".
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Sprachstruktur statt Vokabular
Das Team aus Linguisten und Evolutionsbiologen um Michael Dunn plädiert daher für eine andere Methode, um der Verwandtschaft von Sprachfamilien auf den Grund zu gehen. Anstatt das Vokabular zu analysieren, konzentrierten sie sich auf Sprachstrukturen.

Damit ist in erster Linie die Grammatik gemeint, also: An welcher Stelle steht ein Verb im Nebensatz? Wie wird die Mehrzahl gebildet? Wird die Verneinung in das Verb integriert oder ein Extra-Wort in den Satz aufgenommen?
Austronesische Sprachfamilie und Papua-Sprachen
 
Bild: Science

Unter die Lupe nehmen wollten die Forscher zwei Sprachfamilien: die - bereits gut erforschten - ozeanisch-austronesischen Sprachen und die immer noch geheimnisvollen Papua-Sprachen.

Bei der Analyse inspirieren ließen sich die Wissenschaftler von der Biologie: Vergleichbar mit Gendatenbanken kreierten sie eine Datenbank mit insgesamt 125 strukturellen Gemeinsamkeiten der 16 austronesischen und 15 Papua-Sprachen. Statt der "Stammesverwandtschaft" (Phylogenie) von Lebewesen sollte die Familie der Sprachen auf etwaige Verbindungen überprüft werden.

Bild oben: Darstellung der geografischen Verteilung der untersuchten Sprachgruppen: Die kleinen Dreiecke zeigen eine austronesische Sprache an, die Vierecke eine Papua-Sprache.
Austronesische Sprachen: Analysen stimmen überein
Anhand der austronesischen Sprachen wurde die neue Methode getestet: Die Ergebnisse der strukturellen Analyse entsprachen jenen der weitgehend abgeschlossenen Vokabularuntersuchung.

Der Verwandtschaftsbaum reichte zu einer gemeinsamen Wurzel vor rund 4.000 Jahren zurück, auch dieses Ergebnis entspricht bisherigen Analysen.
Papua-Sprachen: Analyse weist auf gemeinsame Wurzel hin
Bild: Science
Den Sprung in das Neue wagten die Forscher dann mit den Papua-Sprachen. Bisherige Vokabular-Analysen hatten ergeben, dass sie trotz der räumlichen Nähe nicht verwandt sind. Die Strukturanalyse kam zu einem anderen Ergebnis: Zwischen einzelnen Sprachen konnten Hinweise auf eine Wurzel gefunden werden.

Und auch Anzeichen für einen gemeinsamen Ursprung vor mehr als 10.000 Jahren wurden identifiziert (siehe Bild rechts) - auch wenn diese Anzeichen sehr schwach sind und noch einer genaueren Überprüfung bedürfen, wie die Forscher um Michael Dunn festhalten.

Immerhin bestätigen archäologische Grabungen, dass die Region um diese Zeit schon von Menschen bewohnt war.
Neue Analyse-Methode gefunden
Das Wichtige an der neuen Methode sei aber gar nicht der endgültige Verwandtschaftsbeweis der Papua-Sprachen, schreibt Psychologe Gray in seinem begleitenden Kommentar.

Viel bedeutender sei, dass Stammesverwandtschaft mit einer ähnlichen Methode sowohl für Lebewesen als auch für Sprachen nachgewiesen werden könne.
"Ur-Gene" der Sprachen als "Marker" für Migration
Diese Erkenntnis nährt die Hoffnung, die "Ur-Gene" jener Sprachen zu identifizieren, die unsere Vorfahren vor mehr als 10.000 Jahren gesprochen haben. Und damit das durch Genetik und Archäologie skizzierte Bild der Besiedelung der Erde um einige wichtige Elemente ergänzen zu können.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 23.9.05
->   Max Planck Institute for Psycholinguistics (Nijmegen, Niederlande)
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01.01.2010