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Rupert Riedl als Evolutionstheoretiker  
  Der kürzlich verstorbene österreichische Forscher Rupert Riedl hat seine Forscherkarriere als Meeresbiologe begonnen, leistete später wichtige Beiträge zur Evolutionstheorie und beschäftigte sich gegen Ende seiner Laufbahn mit biologischen Grenzgebieten, wie etwa der Evolutionären Erkenntnistheorie. Günter Wagner, Professor an der Yale University und Riedls ehemaliger Mitarbeiter, beleuchtet in einem Gastbeitrag dessen Einfluss auf die Evolutionstheorie und zeigt, warum Riedls Arbeiten zu einem generellen Umdenken in dieser Disziplin geführt haben.  
Revolutionen in der Wissenschaft
von Günter P. Wagner

Im Jahr 1962 hat der prominente Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn (Princeton University) die Idee vorgetragen, dass die Geschichte der Wissenschaft auf zwei verschiedene Arten fortschreitet: die meiste Zeit als "normale" Wissenschaft, und gelegentlich in der Form von "revolutionären" Umwälzungen.

Jeder Wissenschaftler, der als solcher gelten möchte, muss zur normalen Wissenschaft beitragen, d. h. mit Hilfe existierender Theorien und Methoden wissenschaftliche oder technische Probleme lösen können. Nur wenigen ist es vergönnt, an revolutionärer Wissenschaft, für die Kuhn den Begriff Paradigmenwechsel einführt, beteiligt zu sein.

Der kürzlich verstorbene österreichische Biologe Rupert Riedl war einer der wenigen, die dieses Privileg ihr Eigen nennen durften.
->   Thomas Samuel Kuhn - Wikipedia
Paradigmenwechsel
Ein Paradigmenwechsel liegt vor, wenn die grundlegenden Annahmen, Methoden und Theorien eines Wissenschaftszweigs zurückgewiesen und durch andere ersetzt werden.

Das Schulbeispiel eines Paradigmen-Wechsels ist die Relativitätstheorie von Albert Einstein, in der die Annahme eines Raums dessen Struktur unabhängig von den in ihm befindlichen Objekten ist, ersetzt wurde durch eine Theorie, in welcher der Raum von der Schwerkraft der Himmelskörper "gekrümmt" wird.
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Literatur-Tipp
Zu Rupert Riedls wissenschaftlichem Vermächtnis veröffentlichte Günter Wagner mit Manfred D. Laubichler im Jahr 2004 den Ausatz "Rupert Riedl and the re-synthesis of evolutionary and developmental biology: body plans and evolvability" im "Journal of Experimental Zoology B: Molecular and Developmental Evolution" (Band 302, S. 92-102).
->   Zum Artikel (pdf-File)
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Evolutionäre Entwicklungsbiologie als Novum
Seit den 90er-Jahren vollzieht sich in der Evolutionsbiologie ein Paradigmenwechsel, in dem die ein Jahrhundert alte Trennung von Evolutions- und Entwicklungsbiologie aufgehoben wird. In der Folge entsteht ein neuer Zweig der Biologie, die Evolutionäre Entwicklungsbiologie. Im Jahr 2001 wurde Rupert Riedl für seine Pionierarbeit auf diesem Gebiet mit der Internationalen Kowalevsky-Medaille ausgezeichnet. Worin besteht dieser Paradigmen-Wechsel und was hat Rupert Riedl dazu beigetragen?
->   Evolutionary developmental biology - Wikipedia
Die Synthetische Theorie der Evolution
Seit den 20-er Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es praktisch nur ein weltweit anerkanntes Paradigma in der Evolutionsbiologie, die so genannte Synthetische Theorie der Evolution. Diese beruht auf der Erkenntnis, dass sich Evolution durch den Wandel der genetischen Zusammensetzung der Populationen vollzieht.

Neue Gene entstehen durch zufällige Kopierfehler (Mutationen), wobei die meisten dieser neuen Gene wieder verloren gehen, und nur ein kleiner Prozentsatz an Häufigkeit soweit zunimmt, sodass die ursprüngliche Form des Gens verdrängt wird.

In diesem Paradigma wird Evolutionsforschung gleichgesetzt mit dem Studium der Populationsgenetik, d.h. dem Studium der genetischen Zusammensetzung natürlicher Populationen.
->   Synthetische Evolutionstheorie - Wikipedia
Offene Fragen
Dieser Zugang war und ist noch immer enorm fruchtbar und hat zu tiefen Einsichten in viele biologische Phänomene geführt, angefangen mit dem Ursprung der Arten bis hin zu der Frage, warum meistens genauso viele Männchen wie Weibchen geboren werden.

Dennoch aber gab und gibt es Aufgaben, die die synthetische Theorie der Evolution bisher nicht befriedigend lösen konnte. Zu diesen gehört zum Beispiel die Frage, wie es zu radikalen Innovationen kommen kann, wie dem Ursprung der Wirbeltiere, und unter den Wirbeltieren dem Ursprung der Säugetiere.

Diese Lebensformen sind so verschiedenartig, dass es schwer zu verstehen ist, wie die eine aus der anderen hervorgegangen sein kann.
Wie entstanden Säugetiere?
Im Rahmen der Synthetischen Theorie ist verständlich, wie es beispielsweise zu Unterschieden zwischen Eisbären und Braunbären kam. Im kalten Klima brauchen Säuger, wie der Bär, ein helles Fell zur Tarnung sowie zur Verringerung der Wärmeabstrahlung.

Es ist aber erheblich schwerer zu verstehen, wie es zum Ursprung von Säugetieren aus Reptilien kommen konnte. Schließlich gibt es noch immer Reptilien, und es besteht daher kein naturgesetzlicher Zwang, die Lebensform eines Reptils aufzugeben und sich in einen Säuger zu verwandeln.

In der synthetischen Theorie scheint ein wesentliches Element zu fehlen, um zu einer befriedigenden Antwort auf diese Fragen zu gelangen.
Embryonalentwicklung als fehlendes Element
Rupert Riedl war einer der ersten, die bereits in den 70er-Jahren die Entwicklungsbiologie als das fehlende Element in der Evolutionstheorie sahen. In seinem einflussreichen Werk, Die Ordnung des Lebendigen (1975), hat Riedl die erste umfassende Theorie vorgelegt, die sich mit diesem Problem ernsthaft befasst.
Eine neue Sichtweise des Organismus
Dabei hat er eine neue Sichtweise der Rolle des Organismus eingeführt, die das bis dahin geltende Kausalitätsverständnis in der Biologie revolutioniert hat.

Riedl hat nachgewiesen, dass Organismen und Gene sich so zueinander verhalten wie Institutionen zu Individuen. Institutionen leben zwar von der Aktivität der in ihnen wirkenden Individuen, wie die Universität von der Arbeit der Professor(inn)en, Student(inn)en und Verwaltungsbeamt(inn)en lebt.
Körper schränkt Freiheit der Gene ein
Aber es ist nicht richtig, dass Institutionen nur die Summe der Handlungen von Individuen sind. Das ist deshalb nicht zutreffend, weil die Struktur der Institutionen selbst die Handlungen von Menschen beeinflusst, z.B. durch die Kontrolle des Zugangs zu den Institutionen, wie in den Regeln zum Studienzugang oder der Berufung der Professoren.

Auch ist der Handlungsrahmen von Mitgliedern einer Institution durch deren Verfahrensregeln eingeschränkt, sodass Institutionen ein Eigenleben entwickeln, das weit über den Einfluss jedes Individuums hinausgeht.

Und so verhält es sich nach Rupert Riedl auch mit Organismen. Die Kenntnis der Genetik ist zwar notwendig aber bei weitem nicht ausreichend, um Evolution zu verstehen.
Das Gängelband der Gene durchtrennt
Riedl hat argumentiert, dass zwar jeder Organismus (in der Embryonalentwicklung) aus der Aktivität von Genen hervorgeht, doch in der Evolution ist der "Handlungsspielraum" von Genen durch deren funktionelle Wechselabhängigkeiten genauso eingeschränkt wie der von Individuen in einer Institution.

Das war ein revolutionärer Schritt, denn bis dahin herrschte in der Biologie die Ansicht vor, dass der Organismus nur das Schattenbild seiner Gene ist, und sonst keine aktive Rolle in der Evolution spielt.

Das ist im Sinne von Riedl so als ob man Geschichte nur als eine Anhäufung von unzusammenhängenden Einzelentscheidungen von Individuen verstehen wollte, als ob Regierungsformen, ökonomische und militärische Institutionen keinen Einfluss auf den Gang der Geschichte hätten.

Die wissenschaftlichen und weltanschaulichen Konsequenzen dieser konzeptuellen Revolution sind noch nicht voll abzusehen, aber alles deutet darauf hin, dass das, was Riedl vor mehr als dreißig Jahren gesehen hat, uns Nachgeborenen erst langsam von der Last der sich anhäufenden Fakten aufgezwungen wird.

[4.10.05]
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Über den Autor
Univ. Prof. Dr. Günter P. Wagner studierte an der Universität Wien Zoologie und Mathematik, habilitierte sich ebendort im Fach "Populationsgenetik und Evolutionstheorie" und nahm nach einigen Stationen im Ausland 1991 eine Professur an der Yale University an, wo er das "Department of Ecology and Evolutionary Biology" leitet.
->   Website von Günter Wagner
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->   Biologe Rupert Riedl 80-jährig gestorben
 
 
 
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01.01.2010