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Hochschulzugang: Eine Chance zur Normalisierung  
  Kein Land Europas weist in Sachen Hochschulzugang eine so große Offenheit auf wie Österreich. Gleichzeitig liegt Österreichs Akademikerquote unter jener der meisten Industrieländer. Für den Hochschulforscher Hans Pechar gibt es hier einen Zusammenhang: Zu große Liberalität entbinde Universitäten, Studenten und nicht zuletzt die Politik von ihren Pflichten. Das sei eine wichtige Ursache der gegenwärtigen Misere im Universitätsbereich.  
Der österreichische Sonderweg ist eine Sackgasse
Von Hans Pechar

Allen Beschwichtigungsritualen Gehrers, allen Kampfparolen der Opposition zum Trotz: Mit dem offenen Hochschulzugang ist es vorbei. Wir sind in eine Übergangsphase eingetreten, die nach vielen Richtungen hin offen ist, aber keine Rückkehr zum Status quo ante erlaubt. Ist das ein Grund zur Depression?
Offener Hochschulzugang - ein Potemkinsches Dorf
Anfang der 1970er Jahre ging vom offenen Hochschulzugang das positive Signal aus, dass die Politik die Expansion der Universitäten forciere.

Aber in dem Ausmaß, in dem diese Expansion tatsächlich voran schritt, zeigten sich die ambivalenten Folgen einer von realen Studienplätzen entkoppelten Studienberechtigung. Spätestens ab den 1990er Jahren konnten auch die Gutwilligsten nicht mehr ignorieren, dass dieses Muster anomische Zustände bei den Massenfächern verursacht.

Zuletzt war der offene Hochschulzugang nur noch ein Potemkinsches Dorf, hinter dessen freizügiger Fassade die Akademikerquote am unteren Ende der Industrieländer dahin grundelt. In einem kürzlich publizierten internationalen Vergleich der "Zugänglichkeit" von Hochschulbildung in 15 Industrieländern nimmt Österreich den letzten Platz ein.
->   Global Higher Education Rankings (pdf-file)
Einzigartige Freizügigkeit
Wie passt dieses traurige Ergebnis mit unserem einzigartig offenen Hochschulzugang zusammen, den die ÖH am liebsten in den Rang eines Weltkulturerbes erheben möchte?

Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass es dieses Ausmaß an Freizügigkeit in keinem anderen Land gibt. Im angelsächsischen Raum gibt es eine Eingangsselektion durch die Hochschulen.

Unsere europäischen Nachbarn haben bei Fächern, in denen ein eklatantes Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage bei Studienplätzen besteht, Zugangsbeschränkungen eingeführt. Nur Österreich leistete sich bislang den Luxus "totaler Offenheit".
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Veranstaltungshinweis
Hans Pechar wird am 5.10.05 um 18 Uhr mit weiteren Experten im Rahmen des Hochschulpolitischen Forums zum Thema "Offener Hochschulzugang" im ORF Radiokulturhaus diskutieren.
->   Details zur Veranstaltung
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Niedrige Akademikerqoute wegen offenen Zugangs?
Die Verteidiger des offenen Hochschulzugang sind davon überzeugt, dass Österreich bei der Akademikerquote noch weiter zurückfallen werde, wenn wir von diesem Sonderweg abweichen. Aber sie können keine plausiblen Gründe anführen, warum dieses Land trotz eines angeblich überlegenen Hochschulzugangs besonders magere Ergebnisse erzielt.

Die unzureichende Finanzierung der Universitäten, die häufig ins Treffen geführt wird, kann es nicht sein, denn bei den öffentlichen Hochschulausgaben liegt Österreich im OECD-Mittelfeld.

Das ist kein Grund zu besonderem Stolz, aber das alleine kann nicht erklären, warum wir bei den Absolventen deutlich unter dem Durchschnitt liegen. Könnte es sein, dass nicht trotz, sondern wegen des offenen Hochschulzugangs so wenige Österreicher ein Studium abschließen?
Der blinde Fleck: Umfassende Unverbindlichkeit
Im Rahmen der Plausibilitätsfelder, innerhalb derer sich die heimische Debatte bewegt, erscheint diese Frage als dreiste Provokation. Man muss einen Perspektivenwechsel vornehmen, damit der blinde Fleck dieser Debatte ins Blickfeld rückt.

Er bezieht sich auf die umfassende Unverbindlichkeit, welche die andere Seite der hohen Liberalität im Zugang ist. Im Vergleich zu anderen Ländern erfreuen sich alle Akteure des österreichischen Universitätssystems deutlich reduzierter Verpflichtungen.
Lockere Interpretation finanzieller Pflichten
Da es keine transparenten Indikatoren gibt, kann der Staat seine Finanzierungsverpflichtungen sehr locker interpretieren, was vor allem die Massenfächer trifft. Die "Offenheit" bezieht sich ja nur auf die Zugangsrechte, nicht auf die Ressourcen.

Wenn die Rektoren darauf verweisen, dass in einigen Fächern 250 Studenten und mehr auf einen Professor kommen, erhalten sie von der Ministerin den wohlfeilen Rat, sie mögen "endlich managen lernen".
Ausbildungsverantwortung ohne Stellenwert
Ebenso locker interpretieren die Universitäten ihre Ausbildungsverantwortung. Sie können ja ihre Studenten nicht - wie Kunstuniversitäten oder Fachhochschulen - selbst aufnehmen, sondern diese werden ihnen "aufgezwungen".

Unter solchen Rahmenbedingungen begreifen viele Hochschullehrer den Studienabbruch nicht als Problem, sondern als Selbstreinigungsprozess.
Geringe studentische Pflichten
Und schließlich können die Studierenden die Anforderungen des Studiums sehr locker interpretieren. Belegte Lehrveranstaltungen müssen nicht - wie in anderen Ländern üblich - mit einer Prüfung abgeschlossen werden, sondern man kann die Stunde der Bewährung fast endlos hinausschieben.
Konsequenz: Unterdotierte Massenfächer
All das bietet einigen Akteuren große Annehmlichkeiten - daher lieben sie den offenen Hochschulzugang. Aber wenn man dieses System an seinen Ergebnissen bemisst, kommt man zu einer weniger positiven Einschätzung.

Die notwendigen Begleiterscheinungen grenzenloser Offenheit sind eine undurchsichtige Finanzierung der Universitäten, katastrophal unterdotierte Massenfächer, lange Studienzeiten und hohe Dropoutquoten. Das sind die Ingredienzien, die uns zum OECD Schlusslicht bei der Akademikerquote machen.
Nationale Abwehrreflexe der Politik
Das EuGH-Urteil hätte die Möglichkeit zu einer ehrlichen Bilanz des österreichischen Sonderwegs geboten. Statt dessen haben sich Regierung und große Teile der Opposition zur Strategie der Realitätsverweigerung und zur Mobilisierung nationaler Abwehrreflexe entschlossen.
Probleme durch das EuGH-Urteil
Niemand bestreitet, dass das EuGH-Urteil Probleme aufgeworfen hat, die auf Schwachstellen in den Mobilitätskonzepten der EU verweisen.

Die Idee eines europäischen Hochschulraums, in dem alle Mobilitätsbarrieren beseitigt werden, aber die Basisfinanzierung der Hochschulen weiterhin von den Nationalstaaten kommt, setzt ja voraus, dass es in Summe einigermaßen ausgeglichene Wanderungssalden von und outgoing students gibt.

(Eine ähnliche Logik gilt übrigens bei den österreichischen Fachhochschulen, die zu einem hohen Anteil über Fördermittel der Bundesländer des jeweiligen Standorts finanziert werden, aber dennoch auch Studierende aus anderen Bundesländern aufnehmen.)

Die große Zahl deutscher NC-Flüchtlinge ist ein klares Indiz dafür, dass diese Voraussetzung nicht immer zutrifft. Österreich hat daher allen Grund, auf bilateralem Weg ebenso wie auf der europäischen Ebene eine faire Lösung dieses Problems zu fordern.

Warum nützt die Regierung nicht den EU-Vorsitz im nächsten Halbjahr, um den Lastenausgleich zu einem Thema der europäischen Bildungspolitik zu machen? Einfach wird die Lösung nicht sein, aber unmöglich?
Wettbewerb um degoutante Ideen
Die derzeitigen österreichischen Bestrebungen gehen aber in die entgegen gesetzte Richtung: keine europäische Lösung, sondern nationaler Protektionismus mittels "AusländerInnenquoten" (Gehrer) und "Vorrang für Österreichs Studierende" (Broukal).

Die Parteien sind in einen Wettbewerb um die degoutantesten Ideen eingetreten, wie man das EuGH-Urteil und das ihm zu Grunde liegende Diskriminierungsverbot unterlaufen könnte.

Bis vor kurzem hat sich Österreich gerne als Musterschüler der Internationalisierung präsentiert, stolz hat die Politik auf die Erfolge beim Bologna-Prozess und auf den hohen Anteil ausländischer Studierender an den heimischen Universitäten hingewiesen.
Nationalprotektionismus schadet Studenten
Nun macht man eine Kehrtwendung. Und warum? Um sich an einen Sonderweg festzukrallen, der bei nüchterner Betrachtung eine Sackgasse ist. Wenn der Nationalprotektionismus von den Modernisierungsverlierern artikuliert wird, ist das nicht erfreulich, aber verständlich.

Die Studierenden aber zählen zu den best qualifizierten Teilen der Bevölkerung, sie sind grosso modo die Gewinner einer europäischen und globalen Öffnung. Der Nationalprotektionismus in der Hochschulpolitik ist nicht nur unappetitlich, er schadet langfristig auch jenen, deren Interessen er angeblich vertritt.

[4.10.05]
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Über den Autor
Der Autor ist Leiter der Abteilung "Hochschulforschung" der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) an der Universität Klagenfurt
->   IFF-Klagenfurt
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01.01.2010