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Historisches Erbe ist wichtiger Wirtschaftsfaktor  
  Der Lebensstandard in den zehn neuen Mitgliedsländern der Europäischen Union ist sehr unterschiedlich; das Tempo, mit dem sie sich dem ökonomischen EU-Schnitt nähern, ebenso. Den Ursachen dafür widmet sich derzeit der Politologe Shai Moses am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). Laut seinen Forschungen sind es historische, kulturelle und wirtschaftliche Werte, die für die Unterschiede verantwortlich sind: U.a. verfügen jene Länder über mehr gesellschaftlichen Reichtum, die einst Bestandteil der Habsburgermonarchie waren und heute die Wichtigkeit von Innovation betonen.  
Wirtschaftskultur und europäische Integration

Von Shai Moses

Wenn man bedenkt, dass wirtschaftlicher Wohlstand mit der Unterstützung für den europäischen Integrationsprozess in Verbindung steht, dann hat die Erweiterung der EU um zehn neue Mitgliedsländer einige Unsicherheit mit sich gebracht:

Denn der Lebensstandard in den ehemals kommunistischen, neuen Mitgliedsländern liegt (noch) signifikant unter jenem in den EU-15.
Geschichte, Kultur und Wirtschaft
Wie beeinflusst die Vergangenheit der Mittel- und Osteuropäischen Länder (Central and Eastern European Countries, kurz CEEC's) ihre ökonomische Annäherung an die EU? Und warum sind bei diesem Prozess manche neuen Mitgliedsländer - etwa Slowenien, Ungarn und die Tschechische Republik - sehr viel erfolgreicher als andere?

Es geht darum zu verstehen, wie historische, kulturelle, aber auch politisch-ökonomische Aspekte die Entwicklung des Lebensstandards, gemessen am BIP, in diesen Ländern beeinflussen.

Wie man in der Tabelle (siehe Link) sehen kann, liegen Länder wie Polen und Lettland weit unter dem EU-25-Durchschnitt, während hingegen Österreichs BIP gute 20 Prozent darüber liegt.
->   Das BIP der EU-25 im Vergleich (Tabelle)
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Seminar am IWM: Mittwoch, 12. Oktober
Shai Moses stellt seine Forschungsergebnisse am 12. Oktober um 14.30 Uhr in einem Junior Visiting Fellows Seminar unter dem Titel "The Impact of Libertarian and Entrepreneurial Values on Central and Eastern European (New) Members' Convergence" zur Diskussion.

Interessierte sind herzlich eingeladen - um Anmeldung wird gebeten: IWM, Spittelauer Lände 3, 1090 Wien (Tel.: 01-313 58 0)
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
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Religion, Demokratie und Co
Betrachtet man zunächst bestimmte historisch-kulturelle Werte, so lassen sich diese in Korrelation setzen mit dem BIP.

Dazu zählt etwa die religiöse Zusammensetzung einer Gesellschaft, der historische Einflussbereich, in dem die betreffenden Menschen über Jahrhunderte lebten (Habsburgermonarchie, Osmanisches Reich, Russisches Kaiserreich), aber auch die unter leninistischer Herrschaft verbrachte Zeitspanne.

Ebenso kann man bestimmte politische Werte betrachten, wie die Unterstützung von Demokratie oder einer autokratischen Regierungsform, das Vertrauen in Regierungsinstitutionen sowie die Gesetzestreue.
Geografie und Religion zeigen Wirkung
Den Daten zufolge haben diese historisch-kulturellen Werte einen deutlichen Einfluss auf die gegenwärtige Entwicklung des Lebensstandards: Geografisch betrachtet liegt etwa der Lebensstandard niedriger, je weiter das betreffende Land im Osten liegt.

Länder, die im Einflussbereich der Habsburgmonarchie lagen, sind heute erfolgreicher als jene, die dem Russischen Kaiserreich zugeordnet sind. Das Osmanische Reich bildet im Empire-Index das Schlusslicht.

Interessant sind die Ergebnisse zur religiösen Zusammensetzung der Gesellschaften: Einen positiven Einfluss auf den Lebensstandard hat etwa eine mehrheitlich aus Katholiken und Protestanten zusammen gesetzte Gesellschaft. Deutlich negativ wirkt sich eine Mehrheit von Orthodoxen und Muslimen aus. Keinen signifikanten Einfluss zeigen die Daten hingegen für eine rein muslimische Mehrheit.
Politische Werte: Kaum relevante Ergebnisse
Interessanterweise konnten für die untersuchten politischen Werte, die natürlich eng mit gegenwärtigen europäischen und nationalen Politiken in Zusammenhang stehen, keine signifikanten Werte ermittelt werden. Mit Ausnahme der "Unterstützung für autokratische Regime", dieser Wert zeigt einen negativen Einfluss auf das BIP.
->   Die statistischen Ergebnisse im Vergleich (Tabelle)
Libertäre Werte im Fokus
Die bisherigen Ergebnisse scheinen die Situation nicht hinreichend zu erklären. Warum unterscheiden sich die acht neuen, ehemals kommunistischen Mitgliedsländer bezüglich ihres Lebensstandards heute so stark voneinander?

Bei der ökonomischen Annäherung der Länder an die EU könnten auch wirtschaftlich-kulturelle Kompetenzen eine Rolle spielen. Konkret geht es um die so genannten libertären Werte (nicht zu verwechseln mit dem liberalen oder neo-liberalen Ansatz), und um ihren Einfluss auf den Unternehmergeist in den CEECs.

Libertarismus bezeichnet kurz gesagt einen philosophischen Ansatz, der die Verantwortung des Einzelnen und die Maximierung der Freiheit für das Individuum betont. Im Speziellen heißt dies: das Bedürfnis nach einem hohen Maß an ökonomischer und persönlicher Freiheit.
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Hintergrund: Zusammenbruch des Kommunismus
Der globale Aufstieg liberaler politischer und ökonomischer Werte in den 1990er Jahren war eine Folge des Zusammenbruchs der kommunistischen Systeme, der den normativen Einfluss der USA in der Welt stärkte - insbesondere in den CEEC's. Das Ende des Kalten Krieges hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Struktur der dortigen Gesellschaften, was zu grundlegenden institutionellen Reformen führte. Das US-Modell der individuellen Freiheit wurde in den neuen Demokratien sehr bewundert, obwohl diese Normen vor dem Kollaps der Sowjetunion weitgehend nicht vorhanden waren.
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Einfluss des Unternehmergeists
Diese libertären Werte, so zeigen die verfügbaren Daten, existieren in unterschiedlicher Ausprägung in den ehemals kommunistischen neuen Mitgliedsstaaten der EU. Und Sie haben einen deutlichen Einfluss auf den dort zu findenden Unternehmergeist, wie meine Ergebnisse zeigen.

Um letzteren zu messen, habe ich drei Komponenten verwendet - die Unterstützung von Wettbewerb, von privatem Unternehmertum und die besondere Betonung von Innovation - und daraus einen neuen Indikator, den "Entrepreneurial Index" entwickelt.

Es findet sich eine positive und deutliche Korrelation des Unternehmergeistes mit der ökonomischen Annäherung der neuen Mitgliedsstaaten an die EU.
->   "Entrepreneurial Index" in Korrelation zum BIP (Grafik)
Wachsende Ungleichheit als Folge?
Anzumerken bleibt jedoch, dass die untersuchten libertären und unternehmerischen Werte auch mit einem weiteren, aktuell zu beobachtenden Phänomen in Zusammenhang stehen könnten: der wachsenden Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaften in den neuen Mitgliedsländern. Dies gilt es auf jeden Fall genauer zu untersuchen.

[12.10.05]
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Informationen zum Autor
Shai Moses hat seinen Magister am Department of International Relations der Hebräischen Universität, Jerusalem abgeschlossen. Derzeit verbringt er als Junior Visiting Fellow ein Semester am IWM. Seine Forschungsschwerpunkte: europäische Integration, europäischer Erweiterungsprozess, internationale politische Ökonomie.
->   Artikel von S. Moses: The Impact of Eastern Enlargement on the Mediterranean Region: Trade, FDI and Cohesion (pdf)
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Mehr zur Europäischen Integration in science.ORF.at:
->   Kulturelles Erbe: Vom nationalen zum transnationalen Blick (26.4.05)
->   Die Grenzen der Europäischen Integration (24.8.04)
->   Muslime in Europa: Debatte um Islam und Integration (12.5.04)
 
 
 
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01.01.2010