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Brauchen Staaten ein Gedächtnis?  
  In der aktuellen Gedächtnisdebatte wird oft stillschweigend vorausgesetzt, dass Staaten problemlos historische Gedächtnisse ausbilden und inszenieren können. Die Kulturwissenschaftlerin Eva Kovacs vom IFK in Wien meint hingegen, dass kollektive Erinnerungen widersprüchlich und uneinheitlich sind. Anlass ist eine Tagung, die sich dem Gedächtnis der Staaten widmet.  
Gedächtnisse der Shoah

Von Eva Kovacs

Im Frühling 2005 arbeitete ich an einem Projekt, das die individuellen Erfahrungshorizonte und Erinnerungsperspektive österreichischer und ungarischer Opfer des Nationalsozialismus zu rekonstruieren versuchte.

Wir gingen von der Hypothese aus, dass der Erfahrungshorizont dieser Frauen ähnlich sein müsste, ihre Erinnerungsperspektiven sich aber - aufgrund der unterschiedlichen politischen Systeme, in denen sie später lebten - unterscheiden müssten.

Zu unserer Überraschung stellte sich aber heraus, dass kaum Unterschiede bestehen. Es sah danach aus, als ob das kollektive Gedächtnis der Shoah - gleich, ob es unter demokratischen oder totalitären Bedingungen entstand - die immerwährende Diskrepanz zwischen Geschichtspolitik und Erinnerung kaum ausgleichen konnte.
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Das IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften und die Sigmund Freud Privatstiftung veranstalten im Herbst die Reihe "Der Widerstreit der Erinnerungen". Beginn ist am 24. Oktober mit einer Tagung, die sich dem Gedächtnis der Staaten widmet.
->   Programme und Abstracts (IFK)
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Unterschiede in Ost und West ...
Der Großteil der Geschichtsschreibung beschränkt sich auf die Gedächtniskonjunktur des Westens, das heißt auf die eigene Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.

Westliche Historiker und Politikwissenschaftler sind meist der Ansicht, dass das Gedächtnis des Nationalsozialismus eine lange Halbwertszeit in der westlichen Welt habe, während das Gedächtnis des Kommunismus die Menschen nicht mehr bewege.

In den postsozialistischen Staaten hingegen herrscht die genau umgekehrte Meinung vor.
... und ihre Ursachen
Verstehen wir das kollektive Gedächtnis als Produkt eines "longue duree" Prozesses, in dem sich Einstellungen, Gedanken und Gefühle der Menschen einer Epoche ausdrücken, lassen sich Parallelen und Differenzen zwischen den zwei politischen Systemen in einem neuen Licht betrachten.

Die Parallelen führen in die Vorkriegszeit zurück, in eine Zeit, in der die politischen Systeme einander mehr glichen als danach. Die Ähnlichkeiten im Gedächtnis der Shoah sind auf eine ähnliche Vergangenheit zurückzuführen, während die späteren Ausdifferenzierungen der nachfolgenden Generationen aus den unterschiedlichen politischen Situationen herrühren.
Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart
Das heißt: was wir heute als Paradox erleben, ist ein logisches Ergebnis der einstigen, unterschiedlichen politischen Situation. Dort, wo man sich seit fast 30 Jahren unter demokratischen Bedingungen mit der Frage der Shoah beschäftigte, entstand eine Kultur der europäischen Erinnerung - wie, darüber lässt sich streiten.

Wo aber keine solchen Bedingungen existierten, blieb diese Erinnerung eingekapselt und - trotz allen späteren Demokratisierungen des politischen Systems - (post)-sozialistisch.

In diesem Sinn leben wir in einer absurden Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart, in der die politischen Differenzen der Vergangenheit in differenzierte Gedächtnisse transformiert wurden.
Letztes Aufeinandertreffen von ...
Damit bleibt jedoch unser erstes Problem ungelöst: Wie lässt sich die Diskrepanz zwischen Opferperspektive und Gedächtnis aufheben? Wir befinden uns zur Zeit in der dramatischen Situation, in der wir als Augenzeugen das letzte Aufeinandertreffen zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis verfolgen können.

Nur mehr wenige Menschen, die die Shoah erlebten und überlebten, leben heute noch. Noch erzählen sie von ihren traumatischen Erfahrungen und ihrer Enttäuschung über die Geschichtspolitik und dem Gedächtnis der Shoah, das nicht von ihnen produziert wurde.
... kommunikativem und kulturellem Gedächtnis
Ihr unruhiges Dasein ist eine Kontrolle für die Gedächtniskonjunktur. Inzwischen aber fordert das kulturelle Gedächtnis seinen Platz auf aggressive Weise ein.

Wie kann die Erinnerung an die Shoah nach dem Tod der letzten Zeitzeugen überhaupt noch wach gehalten werden, ohne dass es zu einer bloßen Institutionalisierung der Erinnerung kommt? Ob eine neue Ethik der Erinnerung ein aufgewühlteres kollektives Gedächtnis oder die kollektive Amnesie mit sich bringt, wird sich bald zeigen¿

[21.10.05]
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Über die Autorin
Eva Kovacs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Teleki-Laszlo-Stiftung, Zentrum für Mitteleuropäische Studien in Budapest, Gastprofessorin an der Universität Pecs und derzeit IFK_Research Fellow. Sie wird am 24. Oktober im Rahmen der Tagung "Brauchen Staaten ein Gedächtnis?" einen Vortrag zur Shoah als Geschichte und Erinnerung im österreichisch-ungarischen Vergleich halten.
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->   Gastbeiträge des IFK in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010