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Denker der Differenz : Zehnter Todestag von Gilles Deleuze  
  "Wie ist Vielheit ohne Einheit denkbar, die nicht alles nivelliert?" Diese Frage bestimmte das Werk des französischen Philosophen Gilles Deleuze. Sein Hauptfeind war jede Philosophie, die ein System ausbildete. Deleuze verstand sich als Denker des Singulären, das sich nicht durch eine versteinerte Begrifflichkeit mumifizieren lässt. Am 4. November jährt sich sein Todestag zum zehnten Mal.  
Anarchie
Deleuze ging es um die Auflösung verfestigter Strukturen, die er aktiv bekämpfte, wo immer sie auftauchen: "Der Denker des Ereignisses" wandte sich gegen die versteinerte Macht der Gesellschaft ebenso wie gegen das psychoanalytische Dogma des Ödipuskomplexes oder die Geschlossenheit der strukturalistischen Linguistik. Deleuze verstand sich als Denker der Differenz.
Surrealismus und Happening
Sein unakademisches Verhältnis zur Philosophie trug Deleuze den Ruf eines radikalen Philosophen ein. An diesem Ruf war er nicht ganz unbeteiligt.

In immer neuen Anläufen entwickelte er eine experimentelle Sprache, die um die Intensität des Ereignisses kreiste. In seinem gemeinsam mit Félix Guattari verfassten Buch "Anti-Ödipus" entfaltete er einen Begriffstaumel, der Philosophie, Literatur, Malerei und Antipsychatrie verband
Biografie?
Selten spricht Deleuze über seine Biografie. Als Denker der Intensitäten und des Ereignisses hält er eine Fixierung auf biografische Daten für unnötig. Dennoch sollen einige Stationen seines Lebens angeführt werden, um eine Orientierung im deleuzianischen Gesamtkunstwerk zu ermöglichen.

Geboren wurde Gilles Deleuze am 18. Januar 1925 in Paris, wo er sich meist aufhielt. Er studierte Philosophie an der Universität Sorbonne, unter anderem bei Ferdinand Alquié, dem Autor einer "Philosophie des Surrealismus" und bei Jean Hyppolite. Danach lehrte er an verschiedenen Gymnasien und wurde Mitarbeiter am Centre National de Recherche Scientifique.

1962 veröffentlichte er seine Studie "Nietzsche und die Philosophie". Es war dies eine "unzeitgemäße Betrachtung", die sich gegen den damals vorherrschenden Kult der Hegelschen Dialektik richtete.
Philosophie und Kunst
Deleuze begnügte sich jedoch nicht mit philosophischen Studien; für ihn war auch die Auseinandersetzung mit Schriftstellern wie Marcel Proust, Alexander Sacher-Masoch oder Franz Kafka wichtig.

Besonders schätzte Deleuze die "Passion und Pathologie", die er in den literarischen Texten verfolgte und sie manchmal in seine eigene philosophische Produktion übertrug.
L'Amour fou
Das Denken von Deleuze radikalisierte sich während der Studentenrevolte von Paris 1968. Während dieser Zeit arbeitete er eng mit Michel Foucault zusammen und lernte den Psychiaters Félix Guattari an der Reformuniversität Vincennes kennen, wo er eine Professur für Philosophie erhielt. Guattari, der von 1930 bis1992 lebte, wurde vorerst stark von Jacques Lacan beeinflusst.

Unter dem Einfluss der Ereignisse von Mai 1968 wandte er sich der Antipsychatrie zu. Er stellte sich - wie zahlreiche andere Intellektuelle und Künstler - die Frage, wie das Subjekt jene "Wunden heilen könne, die es durch die Barbarei der spätkapitalistischen Gesellschaft erlitten hatte".

In dieser Situation eines gesellschaftlichen und persönlichen Umbruchs erfolgte die Zusammenarbeit der beiden unterschiedlichen Theoretiker. Wichtige Ergebnisse dieses "Deliriums zu zweit" waren "Anti-Ödipus", "Kafka. Für eine kleine Literatur", "Tausend Plateaus" und "Was ist Philosophie?"
Vive le Schizo
Besonderes Aufsehen erregte das zum Kultbuch der freischwebenden Linken avancierte Werk "Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie", das 1972 erschien. Es wurde als Manifest der Marginalisierten, der Ver- rückten, der Schizos gefeiert, die nur mehr ihren unterschiedlichen Intensitätszonen folgen und alle verfestigten Normen überschreiten.

"Anti-Ödipus" ist als eine triumphale Feier des Unbewussten zu verstehen. "Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, isst." Im "Anti- Ödipus" taucht Sigmund Freud als Hauptgegner auf; ihn trifft der Vorwurf, die Begierde, den Wunsch in die Zwangsjacke der Ödipalisierung gesteckt zu haben.
Let it flow
Das psychoanalytische Modell des "Familientheaters" ersetzen Deleuze/Guattari durch die Konzeption der "Wunschmaschinen". Damit ist nicht ein Vorgang gemeint, der in der Phantasie stattfindet, sondern ein Produktionsprozess, der als Fließen von Kraftströmen zu verstehen ist, die wie Maschinen funktionieren.

Das Strömen der Wunschproduktion lässt die Grenzen zwischen Menschen und Dingwelt verfließen, ebenso wie die Grenzen zwischen Organismus und Maschine, Natur und Artefakt. Das Subjekt oszilliert zwischen Intensitätszonen, die miteinander in Beziehung treten.
Philosoph des Undergrounds
Durch das Buch "Anti-Ödipus" war Deleuze zu einer Kultfigur geworden. Seine Vorlesungen an der Reformuniversität Vincennes galten als ein Treffpunkt des intellektuellen und künstlerischen "Undergrounds".

Deleuze setzt seine produktive Denkarbeit fort. Neben zahlreichen Vorlesungen arbeitete er mit Guattari an der Fortsetzung des "Anti-Ödipus", die 1980 unter dem Titel "Tausend Plateaus" erschien.

Darin trat die Maschinenmetaphorik zugunsten eines Begriffs zurück, der aus der Biologie stammt, nämlich dem Rhizom. Das Rhizom soll eine Alternative zum Baum des Wissens anbieten, das als herkömmliche Metapher der Wissensorganisation dient.
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Zitat
"Rhizom ist als unterirdischer Strang grundsätzlich verschieden von großen und kleinen Wurzeln. Zwiebel und Knollengewächse sind Rhizome. Das Rhizom kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln und Knollen."
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Fenstersturz
In den letzten Jahren zog sich Deleuze wegen einer schweren Erkrankung immer mehr zurück. Er veröffentlichte noch Studien über seinen Freund Michel Foucault, über Leibniz und gemeinsam mit Guattari "Was ist Philosophie?"

Er distanzierte sich auch von jener "Internationale der Deklassierten", deren Idol er jahrelang gewesen war. "Ich teile Foucaults Horror vor denen, die sich Außenseiter nennen", sagte Deleuze in einem Interview, "Die Romantik des Wahnsinns, der Delinquenz, der Perversion, der Drogen ist mir zunehmend unerträglich."

Deleuze war, wie der Titel seines Essays über Samuel Beckett lautet: "Erschöpft". Am 4.November 1995 entzog er sich der Krankheit durch einen Sprung aus dem Fenster, der tödlich endete.

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft, 4.11.05
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Literaturhinweise
Zahlreiche Schriften von Deleuze wie "Tausend Plateaus", "Rhizom" oder "Der Faden ist gerissen" sind im Merve Verlag erschienen. Andere Hauptwerke wie "Anti-Ödipus", "Kapitalismus und Schizophrenie" oder "Das Bewegungs-Bild. Kino I" wurden im Suhrkamp Verlag publiziert. Die Einführung zu Deleuze von Michael Ott finden Sie im Junius Verlag. Die Einführung von Christian Jäger ist als UTB Taschenbuch erhältlich.
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->   Gilles Deleuze - Wikipedia
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01.01.2010