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Islam in Europa: Die Rolle der Organisationen  
  Welche sozialen Konflikte Immigration ohne Integration mit sich bringt, zeigen gegenwärtig die Unruhen in Frankreich. Muslime stellen unter Europas Einwanderern einen besonderen Fall dar, ist doch nach 9/11 ihre Religion in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt. Doch den Europäischen Islam gibt es nicht, wie der Anthropologe Ahmet Yükleyen, derzeit am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) forschend, mit Blick auf islamische Organisationen feststellt. Diese spielen demnach eine wichtige Rolle bei der künftigen Ausrichtung des Islam in Europa.  
Formen des Islam in Westeuropa

Von Ahmet Yükleyen

Für den Frieden in Westeuropa ist es entscheidend zu verstehen, wie und vor allem warum gerade hier eine Vielzahl von islamischen Interpretationen - von friedlich bis hin zu gewalttätig - entstanden ist.

In den westeuropäischen Staaten leben heute geschätzte zehn Millionen muslimische Immigranten. Doch sie legen den Islam nicht in einer assimilierten und monolithischen Form aus, wie der von Politikern und manchen Wissenschaftlern verwendete Terminus "Europäischer Islam" suggerieren könnte. Vielmehr existieren unterschiedlichste Varianten wie etwa der politische Islamismus, der Sufismus und der radikale Fundamentalismus.

Transnationale islamische Organisationen haben diese konkurrierenden Formen des Islam in der Europäischen Öffentlichkeit institutionalisiert.
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Seminar am IWM: Mittwoch, 9. November
Ahmet Yükleyen stellt seine Forschungsergebnisse am 9. November um 14.30 Uhr in einem Junior Visiting Fellows Seminar unter dem Titel "Localizing Islam in Western Europe: Comparing Turkish-Islamic Organizations in Germany and the Netherlands" zur Diskussion. Interessierte sind herzlich eingeladen - um Anmeldung wird gebeten: IWM, Spittelauer Lände 3, 1090 Wien (assmann@iwm.at; Tel.: 01-313 58 0).
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
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Milli Görüs, Kaplan und Co
Die Beispiele sind zahlreich: Milli Görüs ist eine politische islamische Bewegung; bei der Nur-Bewegung handelt es sich um eine globale Glaubensgemeinschaft; Suleymanli ist ein Zweig des Sufi-Ordens Naqshibandiyya, der die mystische Tradition des Islam repräsentiert.

Die Kaplan-Gemeinde schließlich ist eine kleine, radikale und revolutionäre islamische Gruppe. Sie wurde von den deutschen Behörden verboten, ihr Führer - Metin Kaplan - im vergangenen Jahr in die Türkei ausgewiesen.
->   Islamische Gemeinschaft Milli Görüs
->   Website von Fethullah Gülen, einem Führer der Nur-Bewegung
->   Verband der Islamischen Kulturzentren e.V. (Suleymanli)
->   Informationen zu Metin Kaplan (Wikipedia)
Zwischen "extrem" und "liberal"
Doch diese transnationalen Organisationen "importieren" nicht einfach religiösen Extremismus aus ihren Heimatländern, noch passen sie sich notwendigerweise an alle liberalen europäischen Werte an. Vielmehr stehen die meisten davon irgendwo in der Mitte, häufig sind es konservativ-moderate Verbände.

Gegenwärtig lässt sich allerdings - mit Blick auf türkisch-islamische Gemeinschaften in Deutschland und den Niederlanden - in ihren Diskursen ein Trend hin zu demokratischen und liberalen Werten beobachten.

Die Organisationen haben enormen Einfluss, denn sie spielen eine Art Vermittlerrolle - und verhandeln zwischen den sozialen und religiösen Bedürfnissen der Muslime auf der einen Seite sowie der jeweiligen offiziellen Politik gegenüber Immigranten im Allgemeinen und Muslimen im Speziellen auf der anderen Seite.
Was bringt die Zukunft?
Die künftige Richtung des Islam in Europa wird von drei Faktoren bestimmt sein. Erstens, wie islamische Organisationen die Religion im Europäischen Kontext interpretieren. Zweitens spielen die Beziehungen zwischen den verschiedenen Organisationen eine Rolle.

Und schließlich hängt die Zukunft auch davon ab, welche "Freiräume" für Immigranten und Muslime die verschiedenen europäischen Länder mithilfe ihrer jeweiligen Politik schaffen oder "verengen".
Interpretation von Djihad in Europa
Da es keine zentrale institutionelle Autorität im Islam gibt, die seine Botschaft für alle Muslime definiert, beansprucht jede Organisation für sich, dass ihre religiöse Interpretation der "wahre Islam" sei. Dies impliziert natürlich, dass andere Auslegungen - teilweise oder völlig - falsch sind.

Die beiden schriftlichen Hauptquellen des Islam sind die so genannten Hadith und der Koran, die heilige Schrift des Islam. Doch jede islamische Organisation verwendet diese Texte unterschiedlich.

Das wohl kontroverseste Beispiel ist das islamische Konzept des Djihad, das häufig stark vereinfacht als "Heiliger Krieg" übersetzt wird. Doch wörtlich bedeutet es "Bemühen" - zu finden in der Bedeutung "im Namen Gottes die Feinde bekämpfen", aber auch als "innerer Kampf gegen die eigenen fleischlichen Begierden".
->   Informationen zu den Hadith (Wikipedia)
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Konträre Definitionen
Die Kaplan-Gemeinschaft etwa betont, dass der Djihad in erster Linie die Anwendung von Gewalt bedeutet, soweit diese notwendig ist, um einen theokratischen "islamischen Staat" zu schaffen, der auf islamischem Recht basiert. Sufi-Bruderschaften wiederum minimieren diese Bedeutung oder lassen sie völlig weg und interpretieren Djihad als den oben erwähnten "inneren Kampf".
->   Ausführliche Informationen zum Begriff (Wikipedia)
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Wettbewerb um Anhänger
Türkische islamische Organisationen wetteifern miteinander um Anhänger, d.h. um menschliche und finanzielle Ressourcen. Sie zeichnen sich aus durch verschiedene religiöse Prioritäten und Aktivitäten für ihre Mitglieder und für potenzielle neue Anhänger.

Die Sufi-Bruderschaften etwa konzentrieren sich mithilfe von mystischen Ritualen auf die innere Spiritualität, während politische islamische Gruppen öffentliche Treffen organisieren und die Anerkennung der muslimischen Identität in der Europäischen Öffentlichkeit fordern.

Für revolutionäre islamische Gemeinschaften wie Hizb-ut Tahrir und die Kaplan-Gemeinde hat die Etablierung eines "islamischen Staates" in einem muslimischen Land Priorität; sie stehen für die Einheit von Religion und Staat. Doch der Kaplan-Gemeinde ist es in der Türkei nicht gelungen, die säkuläre demokratische Regierung zu ersetzen, und Hizb-ut Tahrir ist eine marginale Erscheinung, wenn auch nach wie vor unter Muslimen in Europa aktiv.
Die Rolle der Politik
Schließlich hat auch die jeweilige Politik der verschiedenen europäischen Staaten gegenüber ihren muslimischen Immigranten einen deutlichen Einfluss auf die islamischen Organisationen.

Denn diese passen sich den rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen an, die die Integration der muslimischen Immigranten zum Ziel haben. Allerdings verändern sich diese Rahmenbedingungen mit der Zeit, und sie variieren je nach Land, Region oder auch "Integrationsbereich" (Wirtschaft, Politik, Bildung oder Kultur).
Geschlechtergerechtigkeit als Thema
Ein Vergleich der deutschen und niederländischen Zweige von Milli Görüs zeigt, dass die multikulturelle Politik der Niederlande dieser Bewegung einen Freiraum bietet sich auf die lokalen Bedingungen einzustellen, indem die Botschaft des Islam angepasst und zugleicht die Integration der Anhänger in die niederländische Gesellschaft gefördert wird.

Beispielsweise kooperiert Milli Görüs in den Niederlanden mit dem Ministerium für Soziale Angelegenheiten und Arbeit: in den Moscheen werden auch Predigten zur Verbesserung von Geschlechtergerechtigkeit im Haushalt gehalten.
Milli Görüs in Deutschland
Auch in Deutschland findet sich in der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) eine junge Generation von Führern, die eine Reform von Innen fordern. Doch der Verfassungsschutz hat die IGMG 2001 für verfassungsfeindlich erklärt und als "extremistisch" bezeichnet.

In der öffentlichen Debatte wurde ein Verbot angeregt. Der Grünen-Politiker Cem Özdemir etwa, damals der erste türkischstämmige Abgeordnete im deutschen Bundestag und heute Abgeordneter im Europäischen Parlament, hielt dagegen und argumentierte, dass es innerhalb von Milli Görüs auch moderate Tendenzen gebe.
Komplexes Beziehungsgeflecht
Islamische Organisationen spielen also eine signifikante Rolle bei der Entstehung der verschiedenen Formen des Islam in Europa. Sie interpretieren die Textquellen des Islam durch ihre Beziehungen untereinander, zu den muslimischen Immigranten und zur europäischen Gesellschaft. Die Zukunft des Islam in Europa entfaltet sich aus diesem komplexen Geflecht.

[8.11.2005]
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Informationen zum Autor
Ahmet Yükleyen arbeitet derzeit an seiner Dissertation im Fach Soziale Anthropologie an der Boston University: "Localization of Islam in Western Europe". Seine Arbeit beruht unter anderem auf Feldforschung, die er 2003-2004 in Deutschland und den Niederlanden durchgeführt hat. Derzeit verbringt Yükleyen im Rahmen eines Junior Visting Fellowships ein Semester am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.
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->   Report der Friedrich-Ebert Stiftung zu islamischen Organisationen in Deutschland
->   Euro-Islam.info (Netzwerk von Wissenschaftlern)
->   The Institute for Migration and Ethnic Studies (Niederlande)
->   European Research Centre on Migration and Ethnic Relations
Mehr zu diesen Themen in science.ORF.at:
->   Islam: "Renaissance des Wissens" braucht Freiheit (29.11.04)
->   Muslime in Europa: Debatte um Islam und Integration (12.5.04)
->   Studie ortet neuen Pluralismus in islamischen Ländern (29.3.04)
 
 
 
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01.01.2010