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Biotechnologie: Der Blickwinkel anderer Kulturen  
  Wie wird mit Fragen der Vererbung und des Eingriffs in genetische Informationen in verschiedenen Kulturen umgegangen? Dieser Frage geht die neueste Ausgabe von "Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren" nach. Redakteurin Anke Graneß stellt die Inhalte in einem Gastbeitrag vor.  
Polylog Nr. 13: Biotechnologie in interkultureller Perspektive
von Anke Graneß

Die neuen Biotechnologien, insbesondere die Entwicklungen in der Gentechnik und hier vor allem im Bereich der Humangenetik, und die daraus resultierenden neuen ethischen Herausforderungen stehen seit einiger Zeit im Zentrum einer breiten öffentlichen Diskussion.

Das ist nicht verwunderlich, denn die neuen Möglichkeiten, in die Grundlagen allen Lebens und dessen Ursprung direkt einzugreifen greifen das bisherige Menschenbild und die damit verbundenen ethischen Vorstellungen in ihren Wurzeln an. Sie machen es notwendig, neue Regeln im Umgang mit diesen neuen Technologien festzulegen.
Schutz von menschlichem Leben umstritten
Bei uns in Europa ist die Diskussion um pro und contra Gentechnik in vollem Gange. Vor allem die Frage des Umgangs mit Embryonen und die damit verbundene Frage, von welchem Zeitpunkt an menschliches Leben schützenswert ist, stehen dabei im Mittelpunkt.

Um einen Konsens in diesen wichtigen Fragen zu finden, wurden verschiedene Ethikkommissionen gegründet und neue gesetzliche Grundlagen, vor allem zum Schutz von Embryonen, geschaffen.
Wenig Wahrnehmung außereuropäischer Stimmen
Allerdings ist auch in dieser Debatte zu verzeichnen, dass Stimmen aus dem außereuropäischen Kontext wenig wahrgenommen werden. Das ist bei der originären Interkulturalität / Internationalität dieses Themas besonders erstaunlich, denn ein großer Teil der Forschung auf diesem Gebiet findet außerhalb der westlichen Technologiezentren, z.B. in Indien, China oder Japan statt.

Hier werden im Rahmen einer anderen Wissenschaftskultur und eines anderen Rechtssystems bereits wissenschaftliche Fakten geschaffen, die genauso in Betracht zu ziehen sind wie die dortigen Rahmenbedingungen der Forschung bzw. deren weltanschauliche Hintergründe.
Auch in Europa ist die Diskussion vielfältiger
Und nicht zu letzt: Auch im europäischen Kontext ist die Meinungsvielfalt weit größer als die Diskussion, die momentan entlang der Front zwischen "christlich-fundamentalistischen" und "liberalen" Vorstellungen verläuft, es widerspiegelt.

Denn auf keinen Fall dürfen hier, wo es um einen generellen Meinungsbildungsprozeß mit dem Ziel einer global akzeptierten Lösung geht, die Stimmen der moslemischen oder jüdischen Gemeinden vergessen werden, um nur zwei der vielen weiteren religiösen Gemeinden in Europa zu nennen.

Die aktuelle Ausgabe von "Polylog" versucht, den Blick auf die Diskussionen außerhalb des abendländischen Rahmens zu lenken.
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"Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren" ist die einzige philosophische Zeitschrift im deutschsprachigen Raum, die sich darum bemüht, in die philosophischen Diskurse Beiträge aller Kulturen und Traditionen gleichberechtigt einzuflechten.
->   Weitere Informationen zu Polylog
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Kann ein globaler Konsens gefunden werden?
Als einleitender Beitrag wurde Jens Schlieters Artikel zum Thema "Bioethik, Religion und Kultur aus komparativer Sicht: Zur Bedeutung und Methodik einer neuen Fragestellung" ausgewählt.

Schlieters Beitrag weist auf die Notwendigkeit und die Schwierigkeiten der Ausarbeitung kulturübergreifender bioethischer Standards hin und damit auf die Kernfrage der Diskussion zur Bioethik: Wie kann ein globaler Konsens in diesen für die Zukunft der Menschheit entscheidenden Fragen gefunden werden bzw. können die unterschiedlichen kulturellen Auffassungen zu dieser Thematik überhaupt vereinheitlicht werden?
Eher positive Sicht der Gentechnik bei anderen Kulturen
Im Anschluss werden Diskussionen aus vier verschiedenen Regionen/Religionen vorgestellt. Im Vergleich der Beiträge wird deutlich, dass Gentechnik in anderen Kulturen und Religionen z.T. andere Fragen aufwirft als die bei uns im Mittelpunkt stehenden und dass eine eher positivere Sicht auf die Gentechnik vorherrscht.
Islam: Kinder wichtiges Gut
So werden die neuen Möglichkeiten der Fortpflanzungstechnologie z.B. im Islam grundsätzlich positiv bewertet, da Kinder ein wichtiges religiöses und kulturelles Gut darstellen.

Wichtig ist hier allerdings die strikte Einschränkungen aller Formen der Reproduktion auf verheiratete Paare und die Einhaltung der Abstammungslinie.
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Diskussionsveranstaltung
Die Präsentation von "Polylog" mit einer anschließenden Podiumsdiskussion findet am 12. November um 19:30 Uhr im Institut für Wissenschaft und Kunst (Berggasse 17, 1090 Wien, Seminarraum 3) statt. Zwei der Autoren, Jens Schlieter (Universität Bern) und Ilhan Ilkilic (Universität Mainz) werden an diesem Abend für die Diskussion zur Verfügung stehen.
->   Institut für Wissenschaft und Kunst
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Judentum: Soziale und biologische Mutterschaft
Auch im Judentum ist die familiäre Abstammung von großer Bedeutung, wird die Religion doch über die Mutter weiter gegeben. Insofern werden hier vorrangig Fragen diskutiert zur Stellung der biologischen und sozialen Mutter bzw. zur Rechtmäßigkeit der Trennung von sozialer und biologischer oder von genetischer und gebärender Mutter.

Da ein wichtiges Gebot der Heiligen Schrift die Heilung und Rettung von Leben ist, ist die jüdische Ethik der Gentechnologie jedoch generell sehr positiv gegenüber eingestellt.
Kritik aus Afrika: Fehlende Mitbestimmung
Wesentlich kritischer steht der afrikanische Philosoph Godfrey Tangwa der Gentechnik gegenüber. Tangwa macht nicht nur auf die Risiken der Technologie und die Notwendigkeit des Schutzes der Biodiversität aufmerksam, sondern verweist auch auf das Ungleichgewicht bezüglich der Möglichkeiten der Nutzung bzw. Mitbestimmung über die Nutzung der neuen Technologien in den Ländern der Dritten Welt.

Humangenetik und die Ayurveda Tradition in Indien werden in einem Interview mit Karin Preisendanz, Professorin am Wiener Institut für Südasienkunde, diskutiert.
Feminismus: Wertschöpfung durch Körpersubstanzen
Eine feministische Perspektive auf dieses Thema liefert der Beitrag "Biomacht Ökonomie: Zirkulierende Körperstoffe, zirkulierende Körper-Daten" von Petra Gehring.

Gehring macht nicht nur darauf aufmerksam, dass sowohl die Gentechnik als auch die Diskussion darum wiederum zum großen Teil auf dem Körper der Frau ausgetragen werden, sondern weist zudem auf ein neues Phänomen hin:

Auf eine Wert schöpfende Zirkulation von Körpersubstanzen und -daten mit dem Ziel der Nutzbarmachung und Steigerung des biologischen Lebens, vor allem in Form von Gewinnung von Lebenszeit. Die damit einhergehende Entgrenzung der individuellen Leiblichkeit wird von ihr kritisch betrachtet.
Für globale Lösungen alle Stimmen hören
Natürlich gibt auch diese Ausgabe des Polylog keine abschließenden Antworten auf die großen ethischen Herausforderungen der Gentechnik. Vielmehr war es unser Ziel, als Forum für Stimmen zu dienen, die im vorherrschenden Diskurs wenig oder gar nicht wahrgenommen werden.

Und es soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass es zu global verbindlichen Lösungen nur dann kommen kann, wenn auch diese Stimmen gehört werden.

[10.11.05]
->   Mehr zum Thema Bioethik im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010