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Kleine Leseschule für Stammbäume  
  Der "Baum des Lebens": Kaum ein Bild der Naturwissenschaft ist so verbreitet und so einflussreich, trotzdem wissen die wenigsten, was man darunter verstehen soll. Das zumindest ist die These von drei US-Biologen, die nun das berühmte Bild ordentlich entstauben.  
Zu diesem Zweck haben die Forscher eine Art Leseschule für Stammbäume veröffentlicht: Darin zeigen sie, welches die häufigsten Fehler bei der Interpretation von Stammbäumen sind - und wie man's richtig macht.
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Der Aufsatz "The Tree-Thinking Challenge" von David A. Baum, Stacey DeWitt Smith und Samuel S. S. Donovan erschien in "Science" (Bd. 310, S. 979-80; doi: 10.1126/science.1117727).
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Urversion eines Prinzips
 


"Der Baum des Lebens ... überzieht die Oberfläche [der Erde] mit seinen sich stets verzweigenden und schönen Ästen", schrieb Charles Darwin in seinem Hauptwerk "On the Origin of Species".

Das kann man durchaus wörtlich verstehen: Darwin war es nämlich, der den Baum als passendes Bild der Naturgeschichte einführte. In der Urversion zwar noch mit dünnen, fast schüchternen Linien gezeichnet (Bild oben), aber dennoch klar in der Aussage: Alle Arten sind miteinander verwandt, sie stammen von gemeinsamen Vorfahren ab.

Und dieser historische Prozess kann gedanklich rückwärts verfolgt werden, genau so, wie man eben bei einem Baum die Verbindungen der Zweige und Äste betrachten kann.
Stammbäume in der AIDS-Forschung ...
Diese Idee ist, wie ein Team um David A. Baum [sic] von der University of Wisconsin zeigt, nicht nur historisch interessant: Beispielsweise hat man durch Stammbaumanalysen der HI-Virus-Varianten herausgefunden, wann und wo der Erreger erstmals auftrat und auf welche Weise er übertragen wird.
... und bei Mordversuchen
Selbst Kriminalfälle wurden schon auf diese Weise geklärt: Im Jahr 2002 berichtete beispielsweise ein Team um den Genetiker Michael L. Metzker von einem Mediziner, der seine Ex-Freundin absichtlich mit dem HI-Virus infiziert hatte (PNAS 99, 14292).

Der Beweis dafür gelang ebenfalls durch eine Stammbaumanalyse verschiedener Erregertypen - übrigens der erste Fall, bei dem diese Methode vor einem US-amerikanischen Gericht als Beweismittel eingesetzt wurde.
Verwandt bedeutet nicht immer ähnlich
Darüber hinaus gehört diese Vorgehensweise zum täglichen Brot der Evolutionsbiologie. Will man etwa die Verwandtschaftsverhältnisse von Tieren oder Pflanzen darstellen, dann geschieht das immer durch Stammbäume.

Das scheint auf den ersten Blick nicht schwer verständlich zu sein - und doch beinhaltet dieses Bild eine Reihe von Fallen, die zu falschen Interpretationen führen.

Fehler Nummer eins liegt nach Ansicht von David A. Baum und Kollegen in der Ansicht, dass Stammbäume Ähnlichkeiten wiedergeben würden. Zwar sind nahe verwandte Arten einander oft ähnlich, aber das muss nicht so sein. Klassisches Gegenbeispiel sind etwa die Krokodile, die zwar wie Echsen aussehen, aber genetisch betrachtet den Vögeln näher stehen.
Gemeinsame Vorfahren als Kriterium
Stammbäume zeigen daher etwas anderes, nämlich den Grad der Verwandtschaft. Und zwar in dem ganz geläufigen Sinn, wie in der Aussage, dass wir mit einem Cousin ersten Grades näher verwandt seien als mit einem Cousin zweiten Grades.

Das heißt im Klartext: Der gemeinsame Vorfahre lebte im einen Fall vor zwei Generationen (Großeltern), im anderen Fall vor drei Generationen (Urgroßeltern). Mehr ist da nicht. Und trotzdem bereitet das häufig Verständnisschwierigkeiten.
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Baumschulquiz
Wer seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet testen möchte, kann das in einem zum Teil recht kniffligen Quiz tun, das die US-Biologen ihrem Artikel beigefügt haben.
->   Zum Online-Quiz (kostenpflichtig)
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Preisfrage: Wer ist näher verwandt?
 
Bild: P. HUEY/SCIENCE

Ein Beispiel dafür ist der oben links abgebildete Stammbaum, zu dem Baum und Mitarbeiter die einfache Frage formulieren: Mit wem ist der Frosch näher verwandt? Dem Fisch oder dem Menschen?

Wer jetzt auf den Fisch getippt hat, liegt leider falsch. Der Begründung dafür läuft genau so wie beim Beispiel der beiden Cousins: Der letzte gemeinsamer Vorfahre von Frosch und Mensch (x) ist ein Nachfahre von (y), dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Frosch und Fisch. Folglich lebte (x) in jüngerer Zeit als (y), und genau darauf kommt es an.
Keine Krone der Schöpfung
Eine anderer häufiger Fehler ist die Neigung, Stammbäume gewissermaßen an ihren Astenden zu lesen, wie etwa kürzlich der britische Biologe Sean Nee betonte (Nature 435, 429).

Soll heißen: Wir haben offenbar das intuitive Bedürfnis, uns als die Kulminierung der Schöpfung darzustellen, weswegen der Mensch in vielen Stammbäume als letztes und höchstes Glied eingetragen wird.

Allerdings ist die noch zu Darwins und Haeckels Zeiten verbreitete Ansicht einer gerichteten Höherentwicklung längst passé. Der Mensch ist eine Spezies unter vielen und die Naturgeschichte verläuft keineswegs immer nach "oben" - wobei nicht einmal klar ist, was "oben" bedeuten sollte.

Um so eine Ansicht zu vermeiden, bieten Baum und sein Team
eine alternative Darstellung an (Bild oben rechts). Sie ist inhaltlich völlig gleichwertig, suggeriert aber keinen Aufwärtstrend.
Richtig lesen: Astgabeln statt Astenden
Und sie hat noch einen zweiten Vorteil, wie die US-Biologen betonen: Die eigentliche Information des Stammbaumes liegt nämlich nicht in den Astenden, sondern in den Verzweigungen.

Diese zeigen, welche Arten überhaupt sinnvoll zu einer Gruppe zusammengefasst werden dürfen. Das sind im obigen Beispiel etwa: Mensch-Maus, Mensch-Maus-Echse, Mensch-Maus-Echse-Frosch usw.

Wer an dieser Stelle den Wald vor lauter Bäumen nicht aus den Augen verloren hat, ist bereit für zwei weiterführende Websites: Bei "Popular Groups on the Tree of Life" kann man sich die Verwandtschaftsverhältnisse wichtiger Tier- und Pflanzengruppen ansehen, und die "Tree Thinking Group" gibt weitere Tipps, wie das Denken in Stammbäumen richtig gemacht wird.

Robert Czepel, science.ORF.at, 14.11.05
->   Popular Groups on the Tree of Life
->   Tree Thinking Group
 
 
 
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01.01.2010