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Die Eroberung der Bibliotheken durch das Internet  
  Das Vorhaben von Google, komplette Bücher im Web zugänglich zu machen, ruft nicht nur Begeisterung hervor. Kritiker wenden etwa ein, dass Urheberrechte und Qualitätskontrollen von Texten gefährdet seien, schreibt der Medientheoretiker Rüdiger Wischenbart in einem Gastbeitrag.  
Sein Beitrag ist eine Vorschau auf die "Semantics Conference" in Wien vom 25. bis 27. November, bei der auch das Thema "Google print" behandelt wird.
Eine Erkundung zwischen Google, Amazon und dem Web
Von Rüdiger Wischenbart

Vor einem Jahr, auf der Frankfurter Buchmesse 2004, stellte die Suchmaschine Google ein ambitioniertes Projekt vor: "Google print". Das Prinzip ist einfach. Google kündigte an, in Zukunft Bücher komplett einzuscannen und somit, wie alle anderen Inhalte am Worldwideweb, auffindbar und einsehbar zu machen.

Der Online-Buchhändler Amazon hatte ein ähnliches Projekt - ohne viel Aufhebens - sogar schon ein paar Monate zuvor öffentlich gemacht unter dem Namen "Search Inside the Book".
->   Google Print
->   Search Inside the Book
Budget: 200 Millionen Dollar
Doch Google ging sein Unterfangen wesentlich aggressiver an und schob Zug um Zug in den folgenden Monaten Ankündigungen nach, die an Sprengkraft wenig zu wünschen ließen.

Ausgestattet mit nahezu unerschöpflichen Bar-Ressourcen nach einem spektakulären Börsengang folgte die Ankündigung, man werde mit einer Handvoll der weltweit führenden Bibliotheken gemeinsam deren gewaltige Sammlungen digitalisieren und im Volltext zugänglich machen und dafür rund 200 Millionen Dollar investieren.

Zu den Partnern zählen unter anderem die Universitätsbibliotheken von Michigan, Stanford, Harvard und Oxford - allesamt angelsächsische Einrichtungen, wenn auch mit Beständen, die Bücher aus vielen Kulturen der Welt umfassen.
Die Grande Nation protestiert
Das rief sogleich die französische Nationalbibliothek auf den Plan, die gegen diesen Anschlag auf die kulturelle Vielfalt Sturm lief. Die Europäische Kommission folgte dem Aufschrei. Frankreichs Präsident Jacques Chirac machte sich zum Sprecher der europäischen Google-Abwehr-Front.

Der Börsenverein des deutschen Buchhandels folgte mit der Ankündigung einer Initiative deutscher Verlage, die nun ihr eigenes Digitalisierungsprogramm vorantreiben wollen.

Theoretisch ist es auch durchaus nahe liegend und angemessen zu fragen: Warum soll ausgerechnet eine Suchmaschine Bücher zentral digitalisieren. Die Informationsrevolution, für die der Name Google steht, besteht darin, dass eine Suchmaschine, leidenschaftslos, Informationen aufspürt, egal in welchem Format - also Texte, Bilder, Landkarten, Einkaufsofferte - und unabhängig davon, wo diese Informationen gespeichert sind.

Doch plötzlich dreht Google den Spies um und will künftig nicht nur dezentrale Informationen auflisten, sondern einen noch dazu einen kulturell so heiklen Bestand wie Bücher zentralisieren.
Globaler Wissensanspruch
Um die Brisanz zu begreifen, sind ein paar Größenordnungen zu beachten. Google ist die zur Zeit mit Abstand meistbenutzte Suchmaschine, "googlen" ist in vielen Sprachen ein Synonym für "am Web suchen", und Google hat sich das nicht eben bescheidene Unternehmensziel gesetzt, "die Informationen der Welt zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen."

Einen solch globalen Wissensanspruch hat seit der katholischen Kirche im späten Mittelalter wohl niemand mehr gestellt.

Den 200 Millionen Dollar, die Google allein für sein Bibliotheksprojekt bereitstellt, stehen seitens der Europäischen Union die Hoffnung auf 60 Millionen Euro für das entsprechende europäische Vorhaben gegenüber.

Und dies, obwohl es ungleich komplexer ist, eine Vielzahl von Ländern und Einzelunternehmen quer durch Europa irgendwie zusammenzuführen und die aus der Vielfalt entstehenden technologischen Herausforderungen zu lösen denn, wie Google, ein einheitliches, erprobtes und bei den Usern der Welt anerkanntes Suchprinzip auszuweiten.
Rechtliche Schwierigkeiten
Vertrauend auf seine Stärken hat Google sich, zumindest anfangs, wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen, über vermeintliche Kleinigkeiten wie Zweifel an den rechtlichen Grundlagen großzügig hinweggesetzt - und innerhalb der letzten Monate eine ganze Reihe von Klagen durch Autoren- und Verlegerverbände in den USA wegen des Verdachts auf Verletzung des Urheberrechts aufgesammelt - denn natürlich enthalten die zu digitalisierenden Bestände reihenweise urheberrechtlich geschützte Werke.

Doch vielleicht ist der Rechtsstreit nicht einmal die entscheidende Etappe in dem angedrohten Gemetzel. Denn Google ist keineswegs der alleinige Herausforderer der traditionellen Buchwelt und ihrer Bannerträger - namentlich Autoren, Verlage und europäische Politik.
Haben die Verlage das Nachsehen?
Schon vor einem Jahr warnte Amazon durch seine Sprecherin Lyn Blake Verlage vor einer ganz anderen Gefahr: "The free web is in direct competition with your books. Free content is not going to help us all in the future."

Sprich, wenn Bücher erst einmal, so wie Myriaden von Web-Seiten, einfach irgendwie verfügbar und einsehbar sind, mit welchen anfänglichen Beschränkungen auch immer, dann sei der Geist aus der Flasche und die Verlage (und Buchhändler) haben mit ihren kostenpflichtigen Angeboten das Nachsehen.

"Google print" macht nämlich die eingescannten Bücher nur einsehbar, und dies mit klaren Beschränkungen: Man kann nur ein paar Seiten vor- und zurückblättern und neuere, urheberrechtlich geschützte Buchseiten nicht ausdrucken oder kopieren.
Neue Pläne von Amazon ...
Doch pünktlich zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse lüfteten zwei weitere Giganten den Zipfel des Leintuchs über der nächsten Etappe. Amazon will, in enger Kooperation mit den Verlagen, die Möglichkeit offerieren, dass man aus digitalisierten Büchern am Web auch einzelne Seiten oder Kapitel käuflich erwerben kann - ähnlich wie es Apples iTunes für Music Downloads mit einzelnen Songs vorführt.
->   Zur Mitteilung von Amazon
... und Random House
Und Random House, der weltweit größte, zu Bertelsmann gehörende Verlag, hat auch schon ein Preismodell bereit. 4 Cent pro Seite oder 99 Cent für 20 Seiten wären eine Größenordnung, die man sich in New York in Abstimmung mit Gütersloh gut vorstellen könne.
->   Zur Mitteilung von Random House
Kontrolle außer Kraft?
Zu den aus der Tradition entwickelten Eigenheiten des Buchs, wie es im späten europäischen Mittelalter geprägt wurde, gehört, dass ein Buch ein abgeschlossenes, relativ umfangreiches Werk ist, für das in späterer Zeit immer häufiger auch ein oder mehrere Autoren als Urheber namentlich benannt sind, und für dessen Qualität ein Verlag geradesteht.

Diese wichtigen Begrenzungen werden versinnbildlicht in den beiden das Buch einschließenden Buchdeckeln und in streng geregelten Informationsstandards zu jedem Buch - von den bibliographischen Angaben bis zur internationalen Buch Standard Nummer ISBN.

Diese Begrenzungen und Daten helfen maßgeblich mit, jedes Buch eindeutig zu identifizieren und überprüfbar zu machen - ganz im Gegensatz zu den großteils ungeprüften und kaum kontrollierbaren Informationswelten des Internet.

Google Print, Amazons seitenweises Verkaufsmodell der Zukunft und die Eröffnung von Random House, die Buchdeckel virtuell zu öffnen und Seite für Seite anzubieten, lösen diese alten Verbindlichkeiten schlichtweg auf.

[21.11.05]
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Zum Autor
Rüdiger Wischenbart, Content und Consulting, ist Fachjournalist und Berater mit Arbeitsschwerpunkt Kultur, Buch, Medien in Wien.
->   Website von R. Wischenbart
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->   Semantics 2005
Mehr zu dem Thema in den Ö1-Dimensionen am Mittwoch, 23. November 2005, 19:05 Uhr:
->   Die Google-Gesellschaft (oe1.ORF.at)
 
 
 
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01.01.2010