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Historische Erinnerung als politisches Werkzeug  
  Während Historiker nach einem Maximum an Objektivität streben, ist die Erinnerung der Menschen nicht unbedingt rational zu fassen. Als Teil der eigenen Identität kommen hier vielmehr die Emotionen ins Spiel. Gerade Politiker machen sich dieses Werkzeug in Konflikten gerne zunutze, meint die Politologin Dagmar Kusa in einem Gastbeitrag. Sie untersucht derzeit am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) historische Erinnerung und historische "Amnesie" in der Politik Mitteleuropas.  
Erinnerung und "Amnesie" in Mitteleuropa

Von Dagmar Kusa

"Sie kamen auf ihren hässlichen Pferden, plünderten unsere Dörfer und schlitzten die Bäuche schwangerer Frauen mit ihren Messern auf ...", so der nationalistische slowakische Abgeordnete Jan Slota während einer Debatte, die sich um Ungarn und ungarische Minderheiten in der Slowakei drehte.

"Sie" bezog sich auf die Awaren und Hunnen, die häufig als Vorfahren der Ungarn dargestellt werden - und die vor mehr als 1.000 Jahren in Mitteleuropa erschienen.
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Seminar am IWM: Donnerstag, 24. November
Dagmar Kusa stellt ihre Forschungsergebnisse am 24. November um 14.30 Uhr in einem Junior Visiting Fellows' Seminar unter dem Titel "Je me souviens ... Historic Memory and Historic Amnesia in Central European Politics" zur Diskussion.

Interessierte sind herzlich eingeladen - um Anmeldung wird gebeten: IWM, Spittelauer Lände 3, 1090 Wien (assmann@iwm.at; # (0)1-313 58 0).
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
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Selektiv und zweckmäßig
Historische Erinnerung ist selektiv und zweckmäßig. Ihr Ziel ist es zu vereinen, "uns" von "den anderen" abzugrenzen, die wenig schmeichelhaften Teile zu beschönigen und die guten aufzubauschen und zu mystifizieren.

Mit anderen Worten: die Vergangenheit, an die man sich erinnert, unterscheidet sich grundlegend von der "wirklichen Vergangenheit". Das Verhältnis ersterer zur letzteren hat der amerikanische Historiker Bernard Bailyn als eine "Umarmung" beschrieben, "letztendlich emotional und nicht intellektuell".

Während die akademische Geschichtsforschung eine säkuläre Aufgabe ist, die nach einem Maximum an Objektivität strebt, ist die Erinnerung wie eine Kirche, in der die Nation und Erzählungen über ihren Heroismus und ihr Leiden auf ein Podest gestellt und gottgleich verehrt werden.
->   Historians and "Memory" von David W. Blight (www.common-place.org)
Die Frage der Identität

Veranstaltung im slowakischen Komarno
im Gedenken an die Revolution vom März 1848.
Was aber macht die Erinnerung mitunter zu einem solch machtvollen Werkzeug, das ganze Menschenmassen zu einer gemeinsamen Empfindung bewegt, sie zum Handeln mobilisiert - und manchmal Gewalt hervorbringt?

Die historische Erinnerung ist Teil unserer Identität. Ebenso wie Traditionen, Bräuche, soziale Normen, kulturelle Werte und Lebensstile oder auch Sprache dient sie dazu, eine Gruppe von Menschen zu einen und ihr - physisches und imaginiertes - Territorium in der Welt zu demarkieren.
Negative Demarkierung
Doch während soziale Normen ethnischen Gruppen dabei helfen, positive Botschaften über die Gruppe nach außen zu übermitteln (in Form von Kultur und Traditionen), demarkiert die historische Erinnerung die Gruppe zumeist negativ.

Dies geschieht etwa, wenn lange vergangene Ungerechtigkeiten, historische Missionen einer Nation, die Verteidigung gegen Eindringlinge und Ähnliches thematisiert werden. Die gemeinsame Erinnerung rechtfertigt die Existenz und das Recht zur Selbstbestimmung und ist somit ein Auslöser für Emotionen.
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Die Erinnerung als Werkzeug
Doch Identität wird nicht nur durch die Sozialisation in einer Gemeinschaft gebildet, sondern ebenso durch Außenstehende erzeugt - etwa durch die einer ethnischen Gruppe zugeschriebenen Eigenschaften. Stereotype und Vorurteile gegenüber einer Gruppe können als persönliche Beleidigung aufgefasst werden.

Gleiches gilt für die unterschiedliche Wahrnehmung historischer Ereignisse. Erinnerung ist ein Werkzeug, das eine intime Bindung zwischen Individuum und Gesellschaft herstellt. Dies wird umso mehr wirksam, wenn eine ethnische Gruppe sich innerhalb einer Gesellschaft in einer marginalisierten Position findet (oder glaubt zu befinden), die durch soziale und ökonomische Ungleichheit gekennzeichnet ist.
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Erinnerung in der Politik
Die historische Erinnerung wird gerne von Politikern instrumentalisiert - vor allem seit der Ära nationalistischer "Revival-Bewegungen", als ethnische und nationale Identität zu einer treibenden Kraft in der Politik wurden.

Politikern ist die enge Verbindung wohlbekannt, die gerade die historische Erinnerung im Bezug auf die (ethnische) Identität anbietet. Zahlreiche ethnische Spannungen und Konflikte wurden gezielt von politischen Führern angeheizt, um ihre eigenen Agenden und ihr Machtstreben zu fördern.
Beispiel Mitteleuropa
Mitteleuropa, wo ethnische Gruppen im Überfluss gedeihen und eine lange und komplizierte Geschichte teilen, bietet besonders fruchtbaren Boden für diese Art von Manipulation. Blickt man etwa auf Tschechien, die Slowakei und Ungarn, so zeigen die dortigen Führer großes Geschick darin, sich ethnische Spannungen zunutze zu machen.

Ob es sich um die Teilung der Tschechischen und Slowakischen Republiken handelte, um territoriale Einteilungen in der Slowakei oder um das ungarische Gesetz, das die Rechte und Vorteile ethnischer Ungarn in benachbarten Ländern regelt (zum Missfallen jener Länder): Die Parteien profitieren davon, teils längst vergangene Konflikte zu thematisieren und in ethnischen Farben auszumalen.

Gelegentlich jedoch scheitert der kalkulierte Versuch einer Mobilisierung auf dieser Basis. Als eine Gruppe, die sich als Nachkommen der Hunnen darstellte, im ungarischen Parlament den Antrag stellte, als Minderheit anerkannt zu werden (und damit in den Genuss von finanzieller Förderung zu gelangen), wurden sie von Abgeordneten und Öffentlichkeit schlicht ausgelacht.
Kampf um Öffentlichkeit
Das Ringen um Selbstbestimmung findet nicht nur auf nationaler Ebene statt. Ethnische Gruppen setzen ihre "Territorialität" - Kontrolle über Material, aber auch symbolische Ressourcen - im täglichen Leben ein.

Von Straßennahmen über Denkmäler und Statuen bis hin zu Plaketten kennzeichnen wir Erinnerungsorte und beanspruchen historisches Erbe als "unser".

In Gegenden, in denen zwei oder mehr Gruppen Seite an Seite leben, können solche Bemühungen besonders exhibitionistische Natur annehmen.
Der Fall Komarno
© M. Drozd
Enthüllung der Statuen in Komarno
Elf Jahre lang lagen sich die Slowakische Kulturerbe-Stiftung Matica Slovenska und die Stadtverwaltung von Komarno in den Haaren: Bei dem Streit ging es um die Platzierung von Statuen der beiden byzantinischen Missionare Cyril und Metodius, die als Begründer der slowakischen Nation, als Symbole der nationalen Identität angesehen werden.

Dies im Übrigen, obwohl ihr Aufenthalt eher kurz war und schottische sowie irische Missionare vor und nach ihnen weit länger blieben. Es gibt zudem keinen Beweis dafür, dass Cyril und Metodius in Komarno die Donau überquerten (als wahrscheinlicher gilt eine Furt nahe Bratislawa), aber das ist nicht wichtig, wenn es sich um Symbole handelt.

Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung in Komarno sind ethnische Ungarn. Die Stiftung jedoch beanspruchte den Ort als historisch wichtige "Wiege" der slowakischen Nation. Nach elf Jahren schließlich stellte sie die Statuen auf ihrem eigenen Gebäude in Komarno auf. Die Feierlichkeiten waren pompös: Busse brachten Menschen aus der ganzen Slowakei, viele Politiker hielten Reden - und auch Neo-Nazi-Gruppen marschierten durch die Stadt.
Abhilfe durch EU-Beitritt?
Es mag logisch erscheinen, dass der EU-Beitritt einige der inter-ethnischen Spannungen mildern würde. Doch dies ist nicht der Fall. Nach wie vor gibt es ungarische Politiker, die jene ethnischen Ungarn in benachbarten - und einst zu Österreich-Ungarn gehörenden - Ländern rhetorisch "wiedereinbinden".

Slowakische Politiker wiederum warnen vor dem "traditionellen Ungarischen Irredentismus". Und die Tschechen (Stichwort Benes-Dekrete) forschen tief in ihren historischen Wurzeln, um gegenwärtige Standpunkte und Handlungen gegenüber der EU oder ihren Nachbarn zu rechtfertigen.

[23.11.05]
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Informationen zur Autorin
Dagmar Kusa studiert Politikwissenschaft an der Boston University und arbeitet gegenwärtig an ihrer Dissertation, die untersucht, wie die historische Erinnerung in der Politik instrumentalisiert wird - insbesondere im Rahmen von ethnischen Spannungen und Konflikten. Sie verbringt derzeit als Junior Visting Fellow ein Semester am IWM in Wien.
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01.01.2010