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Auf dem Weg zu einer "Weltsoziologie" der Ungleichheit  
  Das Kapital ist längst global. Als Finanzkapital schwirrt es um den Planeten und verweilt kurz dort, wo es die besten Renditen gibt. Produktionsstätten werden immer öfter an Standorten errichtet, die im weltweiten Wettbewerb die Nase vorn haben. Und zum Teil dürfen selbst die Menschen - vulgo "Humankapital" - ihre Arbeitskraft international verkaufen.  
Nur jene Wissenschaft, die diese Vorgänge eigentlich am besten beschreiben sollte, hinkt dem ganzen noch ein wenig hinterher.

Der Soziologe Reinhard Kreckel von der Universität Halle schlägt deshalb gegenüber science.ORF.at so etwas wie eine "Globo-Soziologie" vor, die es erst in Ansätzen gibt.
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Reinhard Kreckel war diese Woche am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) zu Gast, wo er einen Vortrag zum Thema "Soziale Ungleichheit im globalen Kontext" hielt.
->   IWM
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Von der Individualisierung zurück zur Ungleichheit
Bild: IWM
Reinhard Kreckel am IWM
Die Soziologie hatte es in den vergangenen 15 Jahren als Wissenschaft nicht leicht. Wenn im deutschsprachigen Raum Vertreter der Zunft in der öffentlichen Diskussion wahrgenommen wurden, dann ging es meist um Tendenzen der gesellschaftlichen Individualisierung.

Oberflächlich konnte man den Eindruck gewinnen, dass sich soziale Unterschiede nur noch auf der Ebene persönlicher Vorlieben manifestieren. "Snowboard oder Ski? Nike oder Adidas?", schienen die letzten relevanten Fragen dieser Soziologie, die mit Namen wie Ulrich Beck oder Gerhard Schulze verbunden ist.

Spätestens mit der Wirtschaftskrise und den wachsenden Arbeitslosenzahlen im Deutschland der vergangenen Jahre hat sich das aber geändert. Nun wird die - unter anderem mit handfesten ökonomischen Daten argumentierende - Ungleichheitsforschung wieder stärker rezipiert.
Staatsbürgerschaft und Vermögensverteilung
Einer ihrer prominentesten Vertreter ist Reinhard Kreckel. Sein Resümee nach jahrzehntelanger Forschung: Drei Viertel der weltweiten Ungleichheiten sind auf einen sehr einfachen Faktor zurückzuführen - die Staatsbürgerschaft. Das Land, in dem man zufällig geboren wird, ist das mit Abstand wichtigste Kriterium für Armut oder Reichtum.

Dazu gesellt sich die mittlerweile schon einigermaßen erforschte Ungleichheit, die zwischen den Geschlechtern besteht. Fast noch immer ein Tabu ist hingegen die komplett asymmetrische Verteilung der Vermögen: "ein Hauptverstoß gegen das gerne gepredigte Leistungsprinzip", wie es Kreckel bezeichnet.
Weltweit vergleichende Forschung
Doch auch jene Teile der Ungleichheitsforschung, die gut untersucht sind, leiden unter dem nationalen Rahmen, auf den sie sich beziehen.

Natürlich, so Kreckel, gibt es eine Soziologie, die weltweit und international forscht: als vergleichende Sozialforschung, die etwa auf gleichem Niveau entwickelte Länder gegenüberstellt. Sie kann Ähnlichkeiten und Unterschiede erkennen und Antworten auf konkrete Fragen der Ungleichheitsforschung finden.

Dass die nationale Ungleichheit etwa in den USA viel größer ist als in den europäischen Ländern, habe viel mit der wohlfahrtstaatlichen Tradition des alten Kontinents zu tun.
Methodenproblem der Soziologie
Dass eine internationale Soziologie aber noch keine "Welt-Ungleichheitsforschung" ist, ist klar - und liegt an einem Methodenproblem der Disziplin, meint Kreckel. Empirische Sozialwissenschaft braucht repräsentative Stichproben homogener Populationen - und genau diese sind im Weltmaßstab nicht auszumachen.

Ein "Weltbevölkerungs-Sample" existiert nicht, die statistischen Daten stammen von den Bürokratien der Nationalstaaten, die im besten Fall von Weltbürokraten gesammelt werden.
Interdisziplinarität als Ansatz
Ein Weg von der Makrosoziologie, die sich Länder ansieht und vergleicht, hin zu einer noch zu definierenden "Globo-Soziologie" ist die Interdisziplinarität.

Und die wird laut Kreckel auch heute schon eifrig betrieben, das Datenmonopol liege dabei aber eindeutig auf Seiten der Wirtschaftswissenschaften - wie z.B. Weltbank- oder OECD-Statistiken.
Paradigmenwechsel der Weltbank
Genau die Ökonomen der Weltbank könnten sich als Speerspitzen eines Paradigmenwechsels erweisen. Wurden bis vor kurzem alleine die Parolen "Freihandel und Deregulierung" aufgerufen, um die Wirtschaften anzukurbeln (und nach Eigenverständnis auch die Armut zu bekämpfen), so zeigt sich nun ein geändertes Bild.

Im "World Development Report 2006" der Weltbank wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich strukturell verfestigte Ungleichheit einer Gesellschaft als Hemmnis für Wirtschaftswachstum erweist.
->   World Development Report 2006
Globaler Mittelstand muss warten
Diese gelte es nun selbst aus Sicht eines der Hüter der reinen Lehre des Kapitalismus zu bekämpfen. Unter anderem, damit im globalen Maßstab etwas wächst, was es in den entwickelten Ländern schon gibt: der Mittelstand.

"Mittelklasse-Staaten" sind Länder, die den Anschluss an die OECD-Länder noch nicht geschafft haben, aber den Status von Entwicklungsländern längst hinter sich gelassen haben. Beispiele dafür wären die südostasiatischen "Tigerstaaten" wie Südkorea. Dazu gehören aber auch "Absteiger" wie die Staaten der ehemaligen Sowjetunion oder Teile Lateinamerikas.

Diesen "Mittelklasse-Staaten" scheint aber nicht das Los ihres historischen Vorbildes, des Mittelstandes, beschieden. "Das ist kein Ort des geruhsamen Verweilens", meint Reinhard Kreckel, sondern ein "Aufrücken" oder "Abrücken" in der globalen Hierarchie: "Den Traum von der Weltmittelklasse müssen wir uns abschminken."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 25.11.05
->   Reinhard Kreckel, Universität Halle
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   UNO-Bericht: Eine Milliarde lebt in Armut (9.6.05)
->   Soziologen: Rettungsvorschläge für den Sozialstaat (12.10.04)
->   Bildung: Wie Gleichheit Ungleichheit fördert (20.11.01)
->   Neues Giddens-Buch zur sozialen Ungleichheit (10.8.01)
 
 
 
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01.01.2010