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Galizien und Österreich: Eine Erfolgsgeschichte?  
  Es waren zwei verschiedene Welten, die aufeinander trafen: Auf der einen Seite die zuvor polnische Provinz Galizien, die geprägt war durch einen überaus starken Adel; auf der anderen Seite die Habsburgermonarchie, die die Provinz 1772 annektierte und sich selbst zu diesem Zeitpunkt in einem Prozess der Modernisierung befand. Die Historikerin Iryna Vushko, derzeit am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) zu Gast, hat dieses Aufeinandertreffen von "Anarchie und Moderne" einem genauen Blick unterzogen.  
Österreichs Projekt einer Transformation Galiziens

Von Iryna Vushko

Galizien, zuvor ein Bestandteil der polnischen Republik, wurde nach der ersten Teilung Polens der Habsburgermonarchie angeschlossen.

Die polnische Republik sollte sich schließlich 1795 - in Folge der dritten Teilung - endgültig auflösen und wurde unter Österreich-Ungarn sowie dem Preußischen und Russischen Kaiserreich aufgeteilt.

Die Habsburger allerdings brachten bereits 1772 den größten Teil an Polnischem Territorium an sich; Galizien wurde damals zur größten Provinz innerhalb des Kaiserreiches.
->   Informationen zur Geschichte Galiziens in wikipedia.org
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Galicia and Bukovina: A Research Handbook
Ausführliche Informationen zu den Teilungen, der administrativen Unterteilung Galiziens innerhalb des Habsburgerreichs, sowie Karten finden sich in John Paul Himkas Buch "Galicia and Bukovina: A Research Handbook About Western Ukraine, Late 19th and 20th Centuries". (Historic Sites Service, Occasional Paper No. 20, March 1990).
->   Das Buch als Online-Version (www.ourroots.ca)
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Zwischen Anarchie und Modernisierung
Jenes Jahr 1772 markiert das Aufeinandertreffen zweier völlig unterschiedlicher Welten: das moderne, rationale Habsburgerreich stieß mit der Annektierung Galiziens auf eine Art vor-moderne "Anarchie", die formal als polnische Adelsrepublik definiert war.

Denn das damalige Polen war "berühmt-berüchtigt" für seine zahlreichen und mächtigen Adelsvertreter. Es stellte eine besondere Art von früher Republik dar, in der die Macht des Königs stark eingeschränkt wurde durch das Parlament. Dieses wiederum setzte sich vor allem aus den Adeligen zusammen, die annähernd unbegrenzte Macht über die Staatsangelegenheiten ausübten.

Diese Struktur führte zu der paradoxen Situation, dass etwa über Jahre hinweg kaum eine konsistente Gesetzgebung möglich war, denn dank des so genannten libertum veto konnte jeder einzelne Angehörige des Parlaments mit seiner Stimme jedes Gesetz zu Fall bringen. Es kam wiederholt zur Auflösung des Parlaments.
Gegenmodell Österreich-Ungarn
Die Habsburgermonarchie hingegen war im 18. Jahrhundert das absolute Gegenmodell: Die Reformen unter der Regierung von Maria Theresia und Joseph II in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hatten die Zentralisierung und Einigung des Empire zum Ziel.

Die verschiedenen Provinzen sollten eine einheitliche Verwaltung annehmen und letztlich durch die österreichische Staatsbürokratie regiert werden.
->   Mehr zu den Reformen unter Maria Theresia (wikipedia.org)
->   Mehr zu den Reformen unter Joseph II (www.britannica.com)
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Seminar am IWM: Mittwoch, 30. November
Iryna Vushko stellt ihre Forschungsergebnisse am 30. November um 10.30 Uhr in einem Junior Visiting Fellows Seminar unter dem Titel "Enlightened Absolutism, Imperial Bureaucracy and Provincial Society: The Austrian Project to Transform Galicia, 1772-1795" zur Diskussion.

Interessierte sind herzlich eingeladen - um Anmeldung wird gebeten: IWM, Spittelauer Lände 3, 1090 Wien (assmann@iwm.at; Tel.: 01-313 58 0).
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
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Österreichs Bürokratie: Ein imperiales Gebilde
Für die österreichischen Bürokraten stand die "Staatsidentität" (zumindest vorgeblich) über jeder anderen Form von lokaler oder standesspezifischer Identifikation.

Ihre Absicht war es, mehr ihren eigenen Vorstellungen entsprechende "Österreicher" zu erschaffen. Vor allem aber zielten sie darauf ab, ein Gefühl von Zugehörigkeit und Loyalität gegenüber der Monarchie zu erzeugen.

Diese Bürokratie war hauptsächlich verantwortlich für die Integration der Provinz in das Kaiserreich. Ihre Vertreter kamen nach 1772 aus den verschiedenen Gegenden nach Galizien, um die neue Provinz in die imperialen Strukturen einzugliedern.
Vorbild für ganz Österreich-Ungarn
Nach Beratung am Österreichischen Hof entschied Kaiserin Maria Theresia, dass Galizien ein neues Modell von staatlicher Verwaltung annehmen solle, um "die neue Gebäude nicht durch die Nachahmung des alten zu verderben, sondern nach einem guten, und wohl überdachten Plan aufzufahren".

Einige aufgeklärte Reformer hielten Galizien gar für eine potenzielle Modell-Provinz, ein Vorbild für das neue, sich reformierende Habsburgerreich. Sobald vollkommen, sollte das Modell auch auf andere (ältere) Provinzen des Reiches ausgedehnt werden.
Galizien als Terra Incognita
Es ist eine Sache, sich in Wien ganz neue Möglichkeiten für Reformen vorzustellen, jedoch eine ganz andere, in der Realität auf eine sehr alte polnische Provinz zu stoßen.

Neben dem erwähnten mächtigen Adel verfügte Galizien etwa auch über die größte und dichteste jüdische Bevölkerung im gesamten Kaiserreich. Im späten 18. Jahrhundert lebten etwa zwei Drittel der gesamten jüdischen Bevölkerung Österreich-Ungarns in dieser Provinz. Und das innerhalb einer Monarchie, die sich dezidiert als katholisches Kaiserreich verstand.

Die alten polnischen Institutionen zeigten sich schließlich weitaus resistenter gegenüber Veränderungen, als man sich dies in Wien vorgestellt hatte.
Der ursprüngliche Plan
Nachdem die Provinz eingegliedert worden war, zeigten sich die Habsburger zunächst entschlossen, alle Überbleibsel der alten Republik zu eliminieren - und an ihrer Stelle die neue Verwaltung zu schaffen, die hauptsächlich (wenn nicht gar ausschließlich) mit Bürokraten besetzt werden sollte, die nicht aus Galizien stammten.

Den von dort stammenden Polen sollten Spitzenpositionen innerhalb des Verwaltungsapparates verwehrt bleiben.
Neue Realitäten
Dieser ursprüngliche Entschluss, keine polnischen Adeligen anzustellen, wurde allerdings bereits in den 1780er Jahren verworfen.

Die Massen an "fremden" Bürokaten, die in die neue Provinz versetzt wurden, waren häufig nur ungenügend (aus)gebildet und korrupt, ihre Arbeit war weder für Galizien, noch für das Kaiserreich im Allgemeinen von Nutzen.

Man kam zu der Erkenntnis, dass die erfolgreiche Integration Galiziens in die sozialen und politischen Strukturen des Kaiserreiches nur unter Einbeziehung galizisch-polnischer Adeliger in den österreichischen Staatsdienst zu erreichen sein würde.
Die Muster der Integration
Dem polnischen Adel wurde schließlich der Einstieg in die österreichischen Verwaltungsstrukturen nicht nur erlaubt, man förderte dies sogar. Nach und nach integrierten sich die galizischen Polen - und machten sich zudem die Chancen zunutze, die sich ihnen durch die österreichischen Verwaltungsreformen boten.

Ausgebildet in österreichischen Institutionen wurden viele polnische Adelige zu Staatsbeamten. Den österreichischen Reformern gelang es damit tatsächlich, eines ihrer Hauptziele zu verwirklichen: Der Übergang von der standes- zur staatlich organisierten Gesellschaft fand in Galizien im frühen 19. Jahrhundert statt.
Rückbesinnung auf Polen
Die unbeabsichtigten Folgen der Reformen waren allerdings mindestens ebenso wichtig und bezeichnend. Der einst kosmopolitische galizische Adel begann im Zuge der Integration in die neuen Staatsstrukturen, sich auf die eigene, polnische Identität zu besinnen.

Zwar akzeptierten sie es, dass die öffentliche Verwaltung von Österreich organisiert wurde, doch zugleich begann man bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts damit, diese ursprünglich österreichischen Strukturen in polnische zu verwandeln, in denen Polnisch die Hauptsprache war und Polen einen Großteil der Beamten stellten.

Bürokratie und staatliche Organisation war vielleicht keine so schlechte Idee, meinten die Polen. Doch sollten die Strukturen in allererster Linie den Interessen der polnischen Nation dienen - und nicht etwa der übergeordneten Monarchie.

Diese gemeinsame "Erfolgsgeschichte" endete erst 1918 - als nach dem Ersten Weltkrieg die politische Landkarte Europas neu gestaltet wurde.

[29.11.05]
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Informationen zur Autorin
Iryna Vushko arbeitet derzeit an ihrer Dissertation, die die in diesem Artikel umrissenen Themen behandelt. Sie studiert Geschichte an der Yale University und verbringt derzeit als Junior Visiting Fellow ein Semester am IWM in Wien.
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01.01.2010