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"Knigge" sollte auf katholischen "Index" kommen  
  Die Benimm-Bibel "Knigge" gilt als Standardwerk für Anstand und Etikette. Neu ist, dass das Werk 1820 wegen Verwerflichkeit bei der Römischen Inquisition landete. Die Kritik: Mit den Regeln werde man zum "Egoisten".  
Mehr als 400 Jahre lang waren die Aufzeichnungen über die Buchzensur der katholischen Kirche unter Verschluss. Seit einigen Jahren versucht ein Forscherteam der Universität Münster, Licht ins Dunkel zu bringen und das Vatikan-Geheimarchiv systematisch aufzuarbeiten - das 19. Jahrhundert ist inzwischen fertig.

Welch verblüffende Erkenntnisse es liefert, stellten die Wissenschaftler um den Kirchenhistoriker Hubert Wolf am Dienstagabend in Münster vor.
"Knigge" führt zu Egoismus
Der "Knigge", verfasst von Adolph Freiherrn von Knigge (1752-1796), propagiere eine Maxime, die dem katholischen Geist widerstrebe, schrieb der damalige Gutachter: Wer den Umgangsregeln folge, werde zum "Egoisten" und konzentriere sich ausschließlich auf das "innerweltliche Glück".
"Onkel Toms Hütte": Aufruf zur Revolution
Auch der Roman "Onkel Toms Hütte" von Harriet Beecher Stowe sorgte 1853 für hitzige Debatten. Ein Inquisitor wollte in der Geschichte um die Befreiung der Sklaven einen versteckten Aufruf zur Revolution entdeckt haben.

Beide Bücher kamen in die Debatten der päpstlichen Indexkongregation, die damals für die Buchzensur zuständig war. Zweitgutachter befanden die Werke jedoch für weniger schädlich. So gelangte schließlich keines davon auf den "Index der verbotenen Bücher".
Kampf zwischen kirchlichen Persönlichkeiten
"Diese beiden Beispiele zeigen, wie kontrovers in der Indexkongregation über einzelne Bücher diskutiert wurde", sagt Wolf, der das Projekt leitet. "Das war keine gleichgeschaltete Verbotsmaschine."

Hinter den Entscheidungen standen immer auch die Persönlichkeiten der Gutachter, deren Einstellungen und Positionen in der kirchlichen Hierarchie, oder interne Machtkämpfe in der Kongregation, erklärt er.
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Zahllose Details
In jahrelanger Arbeit hat das Forscher-Team zahllose Details zusammengetragen: Sitzungsprotokolle, Urteile und Gutachten aus dem Vatikan-Archiv, verknüpft mit intensiver Recherche zu allen Mitarbeitern der Inquisition und der Indexkongregation aus mehr als vier Jahrhunderten.
->   Mehr über das Forschungsprojekt
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Freisprüche werden meist nicht bekannt
Mehrere Tausend Bücher setzte der Vatikan in dieser Zeit auf den "Index", darunter Werke von Heinrich Heine, Kant oder Luther.

Die Münsteraner Wissenschaftler vermuten, dass doppelt so viele Bücher verhandelt wie verboten wurden. "Und diese Freisprüche wurden grundsätzlich nicht bekannt", sagt Wolf. Erst die neuen Forschungen bringen zum Teil abwegige Überprüfungen ans Licht.
Nach Darwin vergeblich gesucht
Bestimmte Werke tauchten gar nicht in den Dokumenten der Indexkongregation auf - was die Forscher überraschte. "Charles Darwin zum Beispiel haben wir wie verrückt gesucht. Vergeblich", sagt Wolf.

Auch Hitlers "Mein Kampf" sei nie auf der Verbotsliste gestanden. Wolf und sein Team fanden jedoch erstmals Hinweise, dass sich Gutachter des Vatikans zumindest mit Hitler beschäftigt haben.
Hitler-Buch: Überprüfung wurde eingestellt
Jahrelang liefen Diskussionen, wurden immer wieder vertagt - bis zur Einstellung der Überprüfung. Warum, ist noch nicht klar.

In den kommenden Jahren will der Vatikan weitere Archive aus jüngerer Zeit öffnen - auch aus den Jahren des Nationalsozialismus. Wolf ist fest entschlossen, die Frage dann zu klären.
1992 mit Forschungsarbeit begonnen
Oft sei die Untersuchung reine Detektivarbeit, schildert der Historiker. Als er 1992 per Sondergenehmigung als einer der ersten Forscher Zugang zu dem Geheimarchiv bekam, fehlten jede Ordnung und Systematik.

1998 öffnete der Vatikan das Archiv offiziell für die Forschung. Für sein Vorhaben erhält Wolf Unterstützung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bei der Langzeitförderung über zwölf Jahre erhält das Projekt 1,55 Millionen Euro.
1967: "Index" wurde abgeschafft
Die Ergebnisse aus dem 19. Jahrhundert haben die Wissenschaftler bereits zu Nachschlagewerken verarbeitet, die auch anderen wissenschaftlichen Disziplinen dienen sollen.

Das Ziel bleibt die Bearbeitung der gesamten Zeit der Buchzensur - vom 16. Jahrhundert bis zum Jahr 1967, in dem der Vatikan unter Paul VI. den "Index" abschaffte. "Ein verrücktes Unternehmen", sagt Wolf - und hofft schon jetzt auf eine Verlängerung der Finanzhilfe.

Christiane Jacke/dpa, 30.11.05
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
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01.01.2010