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Geisteswissenschaft: Standortsuche per Manifest  
  Welche Stellung haben die Geisteswissenschaften in der modernen Welt und welche sollten sie haben? Dieser Frage widmet sich ein von fünf Forschern verfasstes "Manifest", das seit seiner Präsentation vor wenigen Tagen im deutschen Feuilleton für Aufregung sorgt. Hauptpunkt der Kritik: Die zentrale Stellung der Geisteswissenschaften sei eine Anmaßung, Konkretisierungen ihrer Leistungsfähigkeit bleiben aus.  
Der Rechtshistoriker Dieter Simon, der Physiologe Günter Stock, der Historiker Dieter Langewiese und die Philosophen Carl Friedrich Gethmann und Jürgen Mittelstraß versuchten auf 28 Seiten eine Standortbestimmung der Geisteswissenschaften.

Leider klingt aber vieles bekannt, konkrete Vorschläge konzentrieren sich auf die Organisationsstruktur der geisteswissenschaftlichen Fächer in Deutschland. Inhaltliche Ideen bleiben wage und erschöpfen sich teilweise in modischen Schlagwörtern.
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Das "Manifest Geisteswissenschaft" wurde im Rahmen eines Symposiums am 25. November 2005 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften präsentiert.
->   Das Manifest als .pdf-Download
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Zentrale Stellung der Geisteswissenschaften
"Die Geisteswissenschaften sind ein fester Bestandteil unserer Wissenschafts- und Alltagskultur", unterstreichen die Autoren in der Präambel des Manifests die ihrer Meinung nach zentrale Stellung "ihrer" Disziplinen.

In den Geisteswissenschaften würde sich die moderne Welt in Wissenschaftsform begreifen, heißt es dort, und weiter: "Dieses Begreifen ist unter Erklärungs- und Orientierungsgesichtspunkten unabdingbar für eine Welt, die selbst ein wissenschaftliches (und technisches) Wesen hat."
Eigene Probleme bewältigen
Um diese Rolle tatsächlich ausfüllen zu können, müssten die Geisteswissenschaften aber ihre eigenen Orientierungs- und Organisationsprobleme bewältigen, schreiben die Forscher. Ihre Vorschläge, wie dieser Prozess aussehen könnte, sorgt nun für Aufregung.
->   Kritik von drei Berliner Geisteswissenschaftlern im "Tagesspiegel"
Auf "Transdisziplinarität" setzen - aber wie?
Zentrale Punkte der Vorschläge: Neues Wissen entstehe nicht nur innerhalb der klassischen Fächer und Disziplinen, sondern mehr und mehr auch an deren Grenzen bzw. in Kooperation mit anderen Fächern und Disziplinen.

"Transdisziplinarität" müsse daher im Zentrum einer geisteswissenschaftlichen Erneuerung stehen, die Kleinteiligkeit der Institutsszene müsse durch Zusammenlegung zu größeren Einheiten überwunden werden.

Leider gehen die Vorschläge nicht über das Organisatorische hinaus, ganz als ob sich die inhaltliche Verschränkung dann von selbst ergeben würde.
Zusammenspiel zwischen Geist und Natur beobachten
Gearbeitet werden muss laut Manifest auch am Selbstbild der Geisteswissenschaften bzw. am eigenen Wissenschaftsbegriff.

Sie dürften sich nicht auf entweder den Geist oder die Natur reduzieren lassen, sondern müssten - im Sinn des Hegelschen "objektiven Geists" - gerade das Zusammenspiel im Auge behalten.

Die Autoren kritisieren in diesem Zusammenhang auch die aktuelle Tendenz, die Diskussion "geistiger" Erscheinungen wie etwa des "freien Willens" den Neurowissenschaften und ihren Messmethoden zu überlassen.
Kulturwissenschaften sind "Holzweg"
Die "Königsrolle" würde die Philosophie einnehmen. Als "Holzweg" bezeichnen die Manifest-Verfasser die Kulturwissenschaften, die eine Verwässerung wissenschaftlicher Standards gebracht hätten, die einen "wesentlichen Teil der gegenwärtigen systematischen und institutionellen Schwäche der Geisteswissenschaften ausmachen" würde.
"Keine Orientierungswissenschaften"
Wie sieht aber die Rolle der Geisteswissenschaften in einer modernen Welt konkret aus? Auch hier bleiben die Autoren ungenau.

Denn einerseits stellen sie fest, dass die "Welt kein Bewusstsein von sich selbst" habe, und wenn doch, dann ein "falsches, z.B. ein ökonomistisches oder technizistisches".

Gleichzeitig seien die Geisteswissenschaften aber "keine Orientierungswissenschaften".
Konzentration auf "kulturelle Form der Welt"
Die Geisteswissenschaften haben "mit der kulturellen Form der Welt und mit der Anstrengung zu tun, sich dieser Form zu vergewissern."

Der sprachliche, ästhetische, historische und rationale Ausdruck müsse in Form von Sprach-, Literatur-, Gesichtswissenschaft und Philosophie im Mittelpunkt stehen.
Organisation: Exzellenzzentren und europäische Initiativen
Abschließend skizzieren die Autoren, welche organisatorischen Akzente gesetzt werden müssten, um den Geisteswissenschaften zu einem Aufschwung zu verhelfen: Sie setzen auf die Einrichtung von Exzellenzzentren sowie einen größeren Knotenpunkt der Exzellenz nach Vorbild des französischen "College de France".

Auf europäischer Ebene könnte man darüber nachdenken, ein Forschungszentrum wie es in den Naturwissenschaften in Form des CERN oder EMBL existiert, auch für die Geisteswissenschaften zu gründen.
->   Mehr zum "College de France"
Diskussion angesichts der Förderpolitik hoch an der Zeit
Von "Hochmut" spricht die "Süddeutsche Zeitung" in einer Analyse des Manifests, die "Neue Zürcher Zeitung" ortet Schwächen in der fehlenden Konkretisierung und der Tatsache, dass ein Teil der Thesen nicht ganz "taufrisch" seien - schließlich habe sie Mitautor Jürgen Mittelstraß schon 1999 publiziert.

Bei aller Kritik muss man aber doch festhalten, dass die Thesen des Manifests zur Diskussion reizen. Und eine auch öffentlich geführte Auseinandersetzung über Sinn und Zukunft der Geisteswissenschaften ist angesichts der zunehmend einseitigen Gewichtung der Förderpolitik in Richtung Natur- und Technikwissenschaften hoch an der Zeit.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 2.12.05
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   "Geisteswissenschaft fühlt sich minderwertig" (14.1.05)
->   Zu Zukunft und Nutzen der Geisteswissenschaften (22.4.04)
->   Geisteswissenschaften oder ''Vom Nutzen des Unnützen'' (4.3.03)
 
 
 
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01.01.2010