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Hannah Arendt: Optimismus trotzt neoliberalem "Zwang"  
  Am 4. Dezember ist der 30. Todestag der Publizistin und politischen Theoretikerin Hannah Arendt. Aus diesem Anlass untersucht der Philosoph Oliver Marchart das Erbe Arendts in einem Gastbeitrag auf aktuelle Bezüge. Er findet sie vor allem in ihrem Prinzip der Handlungsfähigkeit und ihrem ungebrochenen Optimismus - zwei gute Instrumente, die heute gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit des Neoliberalismus ins Feld zu führen sind.  
In unserer Gegenwart: Zum 30. Todestag Hannah Arendts
Von Oliver Marchart

Die kulturindustrielle Feier von Todes- und Geburtstagen "großer" Denker und Denkerinnen ist eine zweischneidige Angelegenheit. Einerseits bietet sie die Chance, das Werk Vergessener und Aus-der-Mode-Gekommener wieder ins allgemeine Gedächtnis zu rücken.

Andererseits kann gerade generalstabsmäßig inszeniertes Erinnern noch tieferes Vergessen produzieren. Im gnadenlosen Abfeiern wird unsichtbar, was das eigentlich Provokante eines Werks ausmacht. Die kalendarische Aktualität verstellt die sachliche.
"Arendtindustrie" wirft kaum unterscheidbare Produkte aus
Diese Gefahr ist bei einer Denkerin wie Hannah Arendt besonders groß. Die Arendtindustrie hat sich zu einer gut geölten Maschine entwickelt, die standardisierte und kaum noch unterscheidbare Produkte auswirft.

Während der populärphilosophische Industriezweig die immergleichen Arendt zugeschriebenen Stehthesen wiederholt oder sich an Arendts inzwischen sattsam bekannter Beziehung zu Martin Heidegger delektiert, sucht der fachphilosophische Industriezweig den rein philologischen Zugang.
Arendt wird vom Tod her gedacht
Letzterer verkommt jedoch schnell zu einer Thanatologie, die Arendt vom Tod, nämlich vom mortifizierten Text her denkt - und nicht von der Kategorie der Geburt und des Neubeginns, die für sie selbst zentral war.

In beiden Fällen, dem popularisierenden wie dem rein philologischen, geht die eigentliche Aktualität und "Radikalität" ihres Denkens verloren. Ja, in beiden Fällen kommt es zur effektiven Depolitisierung ihrer Theorie.

Das Politische, und um nichts anderes geht es bei Arendt, gerät aus dem Blick, wo Arendts Werk zur Erbauung missbraucht oder auf den toten Buchstaben reduziert wird.
Radikal: Optimismus des Denkens
Will man es reanimieren, worin besteht dann die allzu oft weich gezeichnete Radikalität des Arendtschen Denkens?

Vielleicht lässt sie sich so fassen: Arendt verteidigt einen Optimismus des Handelns, der rar geworden ist in post-optimistischen Zeiten.

Politisches Handeln bedeutet bei Arendt, dass - so widrig die Umstände sein mögen - ein neuer Anfang in die Welt verwalteter Routinen geworfen wird.
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Literaturtipp
"Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung" von Oliver Marchart, Wien: Turia+Kant, 2005.
->   Zum Turia+Kant-Verlag
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Handeln als ständig präsente Möglichkeit
Darin ist Arendt eigentlicher Antipode Adornos (der selbst unlängst Opfer des "Adorno-Jahres" wurde): Für Adorno ist Praxis bis auf unbestimmte Zeit vertagt. Für Arendt aber ist politisches Handeln eine ständig präsente Möglichkeit.

Es ist nicht unbedingt die Regel, aber jederzeit kann potenziell ein Neu-Anfang in die Welt geworfen werden. Handeln heißt Neu-Beginnen, und die Menschen sind ausgestattet mit der unzerstörbaren Fähigkeit zum Neubeginn.

Und zwar nach Arendt deshalb, weil jeder Mensch mit seiner Geburt selbst zum neuen Anfang wurde.
Herrschende Ideologie der Alternativlosigkeit
Nun ist unsere heutige politische Situation aber dadurch charakterisiert, dass sie sich unter dem Zeichen der Unmöglichkeit jedes Neuanfangs präsentiert.

Seit Margaret Thatchers berühmte Parole "There is no alternative" zum internationalen Slogan der Neoliberalisierung wurde, herrscht eine Ideologie politischer Alternativlosigkeit, die historisch wohl ihresgleichen sucht.
Zeit der Reformen statt Revolutionen
Es scheint, alle Parteien hätten sich auf eine einzige hegemoniale Ideologie geeinigt, die da lautet: Die Zeit der politischen Neuanfänge ist vorbei. Die Zeit der permanenten "Reformen" ist gekommen.

Allein der Begriff "Revolution", der für Arendt von zentraler Bedeutung war als Kennzeichen eines Neubeginns in der Geschichte, ist bereits delegitimiert, bevor überhaupt verhandelt wurde, was er denn sinnvoll noch heißen könne.

Jede politische Veränderung, die über minimale Adjustierungen des Status quo hinausgeht, wurde scheinbar denkunmöglich gemacht. Jeder Neuanfang, der nicht die identische Reproduktion des bereits Bestehenden beinhaltet, ist in den Status der Utopie relegiert.
Dennoch zeigen sich konkrete Alternativen
Doch das Bild eines gänzlich post-arendtianischen Universums täuscht. Tatsächlich drängen die unterschiedlichsten konkreten Alternativen an die Öffentlichkeit. Am sichtbarsten wohl mit dem Auftritt der globalisierungskritischen Bewegung.

Das drückt sich deutlich aus in der französischen Bezeichnung der globalisierungskritischen Bewegung als altermondialistes. In diesem Begriff steckt zweierlei: die "Welt", die nach Arendt im gemeinsamen Handeln entsteht, und die Alternative.
Politisches Handeln ist möglich
Der Slogan "Eine andere Welt ist möglich" ist also direkte Antwort auf "There is no alternative". In Arendtianisch übersetzt will er nichts anderes sagen als: Es lässt sich nach wie vor politisch handeln.

Aus Arendt spricht daher ein Optimismus des Handelns, der letztlich an jeder politischen Aktion, und sei sie noch so verzweifelt, abzulesen ist. Denn ohne ein minimales Quäntchen Handlungsoptimismus käme es von vornherein zu keiner Aktion.
Im Optimismus liegt die Aktualität
Gerade in diesem gänzlich unzeitgemäßen Optimismus liegt Arendts Aktualität. Sie verteidigt einen emphatischen Begriff des Politischen, wo dieses längst abgeschrieben wurde - und sich doch immer wieder zurückmeldet.

Wenn Arendt nicht der Arendt-Industrie und der Arendt-Thanatologie überlassen werden soll, dann muss ihr Denken selbst neu begonnen werden.

Und zwar, wie Arendt gesagt hätte, "in der Gegenwart". Soll heißen: in unserer Gegenwart.

[2.12.05]
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Zum Autor
Oliver Marchart studierte Philosophie und politische Theorie in Wien und Essex. Er ist derzeit Universitätsassistent an der Universität Basel und Lehrbeauftragter an den Instituten für Philosophie und für Politikwissenschaft der Universität Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen politische Theorie, Kulturtheorie und Ästhetik.
->   Kurzbiografie Oliver Marchart
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01.01.2010