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Ist der Staat mehr als nur Recht?  
  Der Staat wird üblicherweise als rein rechtliches Gebilde angesehen. Die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann vom IFK in Wien weist jedoch in Auseinandersetzung mit den Theorien von Thomas Hobbes nach, dass Staaten und Gemeinschaften auch durch ästhetische, symbolische und emotionale Bande zusammengehalten werden.  
Formen der Gemeinschaft

Von Iris Därmann

Schenkt man den Rechtsphilosophen Glauben, dann gründet sich die politische Philosophie der Neuzeit ausschließlich auf dem Recht. Der von dem Staatstheoretiker und Philosophen Thomas Hobbes entworfene Kontraktualismus basiert bekanntlich auf einem Dreischritt von kriegerischem Naturzustand, Gesellschaftsvertrag und Staatsgründung.

Bei ihm ist die Polis weder naturgegeben, wie bei Aristoteles, noch gottgegeben, wie bei Thomas von Aquin. Vielmehr tritt hier der aus der göttlichen Verantwortung entlassene, wesentlich a-soziale Mensch erstmals als Konstrukteur des Staates in Erscheinung. Dabei bedient er sich des Vertrages als der eigentlichen Technik zur Errichtung des Staates.
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Iris Därmann wird am 5. Dezember 2005, 18.00 c. t. am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel Die Maske des Staates: Zum Begriff der Person und zur Theorie des Bildes in Thomas Hobbes¿ Leviathan halten. Darin zeigt sie, dass in Hobbes¿ Leviathan erstmals eine Konzeption der visuellen Inszenierung politischer Macht vorgelegt wurde, die unserem Verständnis von Propaganda vorgreift.
->   IFK-Website
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Recht allein reicht nicht aus
Das Recht alleine kann jedoch nicht ausreichen, um Gesellschaft und ein friedliches Zusammenleben zu stiften. Bereits bei den Kontraktualisten gibt es ein Ungenügen des rechtlich-politischen Modells zu beobachten. Es macht den Rückgriff auf nichtvertragliche Praktiken der Gesellschafts- und Staatsbildung erforderlich.
Nichtvertragliche Praktiken
- So unterstreicht Hobbes¿ Bild- und Personentheorie in seinem 1651 erschienenen Werk Leviathan die Notwendigkeit der Inszenierung und Maskierung der souveränen Gewalt, um die Untertanen zur Einhaltung der Gesetze zu zwingen.

- Um den Frieden auf ewige Dauer zu stellen, bedarf Kants Weltbürgerrecht der Institution der Gastfreundschaft, für die seine wenig beachtete Kritik der Tischgesellschaft aus den Vorlesungen zur pragmatischen Anthropologie ein kulturelles Paradigma bietet.

- Rousseau erweist sich als der am meisten beunruhigte Kontraktualist, der inmitten der Gesellschaft die Frage der Gemeinschaft stellt, indem er die rechtliche Konstruktion mit ethischen Forderungen überlastet.
Die Erosion des rechtlichen Modells
Mein Forschungsprojekt am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften ist dieser zunächst unmerklichen Erosion des rechtlichen Modells auf der Spur.

Dieser Eindruck einer Erosion verstärkt sich durch die Entdeckung alternativer politischer Organisationen und der ethnologischen Erforschung der außereuropäischen "Gesellschaften ohne Staat".

So fragt die politische Theorie des 19. Jahrhunderts nach der Möglichkeit des sozialen Bandes, der Entstehung von Gesellschaft und dem, was Gesellschaft zusammenhält, nicht mehr bzw. nicht mehr ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Rechts.

Sie entwirft oder imaginiert vielmehr eine Erfahrung von Gemeinschaft als das, was allen gemeinsam ist oder besser: allen gemeinsam wird.
Formen des sozialen Bandes
- Entweder in Form der Aufnahme einer geteilten und gemeinsamen Substanz: Hier steht die soziale Bedeutung der kulturellen Institution der Tischgesellschaft im Vordergrund (bei William Robertson Smith, Durkheim, Nietzsche, Freud, Simmel).

- Oder aber in Form einer gemeinsamen Besessenheits-Erfahrung, die die Einzelnen über sich hinaushebt, sie verwandelt und durch gegenseitige Selbstaffektion zu einer Gemeinschaft zusammenschmelzen läßt (Durkheim, Mauss, Nietzsche, Bataille).

- Diese affektive Erfahrung bedarf freilich einer ästhetischen Repräsentation, um der ungeordneten Masse eine einheitliche Gestalt zu verleihen, die ihre Selbstwahrnehmung als Gemeinschaft ermöglicht. Das ist die Stelle, wo die Politik, wie in den Kunstphilosophien von Nietzsche, Benjamin und Heidegger, ästhetisiert wird.
Offene Fragen
Kann man von diesen Konzeptionen noch irgendetwas festhalten, um das Politische zu denken? Was bedeutet politische Gemeinschaft heute, da wir die Abwesenheit des Gemeinsamen innerhalb unserer Gesellschaften zu verzeichnen haben?

Bedürfen wir überhaupt kultureller Praktiken der Gemeinschaftsbildung, bedürfen wir der affektiven Erfahrungen von Sozialität und einer ästhetisch-symbolischen Darstellung des Politischen? Oder aber sind wir nach den faschistischen Massenaufmärschen von solchen Mythen der Gemeinschaft geheilt?

Können wir uns mit einer gesellschaftlichen Ordnung begnügen, die sich als ein loses Netzwerk atomarer Individuen begreift und über die rechtliche Regulierung egoistischer Interessen nicht hinausgeht?

Wie radikal muß die politische Bedeutung der Gastfreundschaft und die kulturelle Institution der Tischgesellschaft in einer Zeit gedacht werden, da eine Ethik, Politik und Ästhetik der weltweit gerechten Teilung und Verteilung der Nahrung auf dem Spiel steht?

[5.12.05]
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Zur Autorin
Iris Därmann lehrt und forscht am Institut für Kulturtheorie der Universität Lüneburg und ist IFK_Visiting Fellow.
->   Uni Lüneburg, Fachbereich Kulturwissenschaften
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01.01.2010