News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Selbstkreuzigung: Wenn Religion zum "Theater" wird  
  Religiöses Wissen kann nicht nur durch Texte erzeugt und vermittelt werden, sondern auch durch Handlungen und Bilder. Besonders stark ausgeprägt ist dieser Zugang auf den Philippinen, wo die Selbstgeißelung bzw. -kreuzigung zur religiösen Praxis gehört. Der Ethnologe und Religionswissenschaftler Peter J. Bräunlein, Fellow am IFK in Wien, hat die Funktionen dieser Handlungen untersucht.  
Bewegende Bilder der Passion: Philippinische Passionsrituale als 'image-acts'

Von Peter J. Bräunlein

Religionen sind für sich genommen zunächst weder evident noch plausibel. Religionen sind auf Medien der Vermittlung ebenso wie auf Strategien der Überzeugung angewiesen. Jede Religion, so stellte Clifford Geertz bereits vor vierzig Jahren fest, "lebt" von der Veranschaulichung nicht-sichtbarer, abstrakter Wahrheiten. Religionen sind notwendigerweise höchst produktiv in der Erzeugung innerer wie äußerer Bilder.

In religiösen Inszenierungen werden Blicke gelenkt, und vielfach formulieren Religionen Vorschriften zur Disziplinierung des Augensinns. Visuelle Wahrnehmung wird damit zur intentionalen, heilsfördernden oder -verhindernden Aktivität. Wahrnehmung und Gestaltung 'letzter' Wirklichkeiten sind in eins gesetzt.
Bilder sollen innere Bewegung anstoßen
Bei der Untersuchung visueller Übersetzungsvorgänge religiöser Botschaften (etwa in rituellen Prozessen), stößt man auf bewegte Bilder, die innere Bewegung anstoßen sollen.

Emotionale Glaubwürdigkeit basiert auf visuellen Übersetzungen eines Weltbildes. Religion, Bild, Medium und Körper werden in Vorgängen des 'Bildhandelns' zu entscheidenden Analysegrößen.
Auf den Spuren der philippinischen Selbstgeißler
In den Jahren 1996 bis 1998 untersuchte ich in einer Feldforschung Passionsrituale auf den Philippinen. Angeregt von einem kurzen Bericht in einer deutschen Tageszeitung wurde ich auf das Phänomen der Selbstkreuzigung und Selbstgeißelung aufmerksam.

Vor Ort wollte ich mehr über die Motivationen jener Menschen herausfinden, die sich selbst kreuzigen lassen oder sich flagellieren.

In einem mehrjährigen Forschungsvorhaben erfolgte einerseits eine historische Spurensuche, die dem Phänomen der religiös motivierten Selbstverletzung in der 2000jährigen Christentumsgeschichte nachging. Andererseits war es die Feldforschung auf den Philippinen, in der es um Facetten des lokalen, außereuropäischen Christentums ging.
...
Peter J. Bräunlein wird am 12. Dezember 2005, 18.00 c. t. am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "Bewegende Bilder der Passion: Philippinische Passionsrituale als 'image-acts'" halten. Dabei werden auch Ausschnitte einer Videodokumentation gezeigt, die der Ethnologe und Religionswissenschaftler auf den Philippinen erstellte.
->   IFK-Website
...
Selbstkreuzigung 1962 auf Philippinen erfunden
Im Westen wird die Selbstgeißelung seit zirka 1.000 Jahren praktiziert, in jeweils unterschiedlichen Kontexten: kollektive Krisenbewältigung, mönchische Bußübung und leidensmystische Praxis.

Über Missionsorden gelangte die Flagellation auf die Philippinen und wurde augenblicklich mit Begeisterung aufgenommen. Die Selbstkreuzigung war im Abendland keine anerkannte oder gar übliche Frömmigkeitspraxis.

Die wenigen bekannten Fälle wurden frühzeitig als Verirrung markiert, kriminalisiert oder pathologisiert. Auf den Philippinen wurde die erste Selbstkreuzigung 1962 "erfunden".
Männer und Frauen lassen sich kreuzigen
Mittlerweile sind es zwei Orte, San Fernando (Pampanga) und in Kapitangan (Bulacan), die alljährlich Tausende von Zuschauer anlocken. Während es in San Fernando fast ausschließlich Männer sind, die sich wegen eines Gelübdes (aufgrund von Krankheit bzw. Genesung) kreuzigen lassen, sind es in Kapitangan vorwiegend Frauen, die als Heilerinnen tätig sind.
...
Blicke der Zuschauer als Bestandteil
In philippinischen Passionsritualen verbinden sich iberischer Katholizismus mit südostasiatischem Schamanismus, die biblische Passionserzählung mit traditionellem epischen Theater. Selbstkreuzigungen finden im öffentlichen Raum statt.

Die Blicke der Zuschauer ebenso wie die Objektive der Fernseh-Kameras und Photoapparate sind elementarer Bestandteil des performativen Ereignisses, das uneindeutig zwischen Medien-Inszenierung, Spektakel, Theater, Tableaux Vivant und schamanischem Initiationsritual anzusiedeln ist.
...
Religiöses Wissen durch Bilder
Die mediale und performative Dimension ist ebenso wichtig wie die körperliche Seite des Geschehens. Das Bild des leidenden Christus entfaltet seine Macht über die Blicke der Zuschauer. Der Blick der Akteure am Kreuz verweist in nicht-irdische Räume.

Es ist die mimetische Vergegenwärtigung der Passion Christi, die dem Erwerb spiritueller Macht (zum Zwecke der Heilung) dient. Verhandlungen von Prestige, Macht, sozialer Position erfolgen über rituell inszenierte Bild-Handlungen.

Über Bilder und Bild-Handeln wird religiöses Wissen erzeugt, vermittelt und emotional verfestigt. Bildakte - 'image acts' - bergen somit eminent performative und transformative Qualitäten in sich.
Religion ist auch Kommunikation
Die Religionswissenschaft privilegierte lange Zeit das Studium "Heiliger Texte". Die damit einhergehende philologisch-historische Ausrichtung des Faches verhinderte es, 'Religion' prozesshaft-dynamisch, über die Parameter 'Kultur', 'Kommunikation' und 'Handlung' zu erforschen.

Thematisiert man Religion/en ausgehend von Handlung und Kommunikation wird deutlich, dass Kommunikation nicht nur als linguistische zu verstehen ist.
Breiteres Verständnis religiösen Handelns
Religion basiert in vielerlei Hinsicht auf performativ-visueller Kommunikation. Untersucht man Religionsgeschichte als Teil von Kommunikations- und Mediengeschichte, werden "blinde Flecken" und neue "Landschaften" sichtbar.

Aufschlussreich wird nun die Beziehung von Text und Bild, von Betrachten und Lesen, von Blick und Emotion, von Körperlichkeit und religiöser Weltdeutung.

[12.12.05]
...
Peter J. Bräunlein ist Hochschuldozent für Religionswissenschaft an der Philipps-Universität Marburg und IFK_Visiting Fellow.
...
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010