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"Sprachliche Brille": Rechtes Gesichtsfeld wird gefiltert  
  Die Diskussion ähnelt jener um die Henne und das Ei: Formt die Sprache das Denken oder das Denken die Sprache? US-Wissenschaftler haben nun versucht, sich einer Antwort durch die neurologischen Grundlagen im Gehirn anzunähern. Das Ergebnis: Nur für die rechte Hälfte des Gesichtsfelds sei nachweisbar, dass Sprache die Wahrnehmung beeinflusse.  
Auch dieses Forschungsergebnis kann also nicht entscheiden, wem nun die Vormachtstellung zukomme, der Sprache oder dem Denken. Viel mehr müsse man davon ausgehen, dass visuelle Eindrücke teilweise durch Sprache gefiltert und teilweise ungefiltert verarbeitet werden, schreiben Aubrey Gilbert und Kollegen von der Universität Kalifornien.
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Die Studie "Whorf hypothesis is supported in the right visual field but not the left" von Aubrey Gilbert und Kollegen erscheint zwischen 25. und 30. Dezember 2005 in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) (DOI:10.1073_pnas.0509868103).
->   Zum Original-Paper (erst nach Erscheinen online)
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Streit: Spracherwerb angeboren ...
Die Grundlage für die aktuelle Studie bildet ein seit fast hundert Jahren wogender Streit: Sind bestimmte sprachliche Strukturen angeboren und passen sie sich nur der Wirklichkeit an oder ist Sprache eine rein individuelle Fähigkeit, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit formt?

Ein prominenter Vertreter der ersten These ist der US-amerikanische Linguist Noam Chomsky. Er prägte in den 60er Jahren den Begriff der "Universalen Grammatik" und bezeichnete damit den angeborenen Mechanismus des Spracherwerbs, aufgrund dessen ein Kind in der Lage ist, die komplexe Grammatik - oder Syntax - prinzipiell jeder natürlichen Sprache zu erlernen.
->   Mehr über die Hypothesen von Noam Chomsky bei Wikipedia.de
... oder individuelle Fähigkeit?
Chomsky sah seine These als Gegenentwurf zum Modell von Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf, die dem Prinzip der "linguistischen Relativität" anhingen:

In ihrer später als Sapir-Whorf-Hypothese betitelten Theorie gehen sie davon aus, nicht die Sprache sich der Wirklichkeit anpasst, sondern die Wirklichkeit umgekehrt nur durch die Brille der Muttersprache wahrgenommen werden kann. Jede Sprache begründet demnach eine andere Weltsicht.

Während Chomsky in der Universalgrammatik das gemeinsame Element aller Sprachen sieht, gehen Sapir und Whorf - extrem gedacht - davon aus, dass jede Sprache verschieden und ein grundlegendes Verständnis zwischen verschiedenen Sprachfamilien nicht möglich ist.
->   Mehr über die Sapir-Whorf-Hypothese bei Wikipedia.de
Klärung durch die Organisation des Gehirns
Der Frage, ob Sprache die Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinflussen kann, wurde bisher hauptsächlich auf Basis von interkulturellen Vergleichen nachgegangen, schreiben auch Aubrey Gilbert und Kollegen in ihrer Studie.

Sie wählten einen anderen Zugang. Über die Organisation des Gehirns wollten sie klären, ob Sprache die Wahrnehmung beeinflusst.
These: Spracheinfluss rechts stärker als links
Ihre These: Wenn es diesen Zusammenhang gibt, sollte er sich stärker bei der Verarbeitung von Eindrücken in der rechten Gesichtshälfte spiegeln als im linken Gesichtsfeld.

Denn schließlich wisse man, dass Informationen aus dem rechten Gesichtsfeld in der linken Gehirnhälfte verarbeitet werden, wo wiederum auch Sprache vorrangig prozessiert wird.
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Der Versuch
Um die These zu überprüfen, mussten Versuchspersonen Farben identifizieren bzw. unterscheiden, die abwechselnd in ihrem rechten oder linken Gesichtsfeld auftauchten.

In einem zweiten Schritt wurde ihnen vorher gesagt, welche Farbe auftauchen würde. Bei beiden Experimenten wurde die Reaktionszeit überprüft.
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Schnelle Identifikation von rechts auftauchenden Farben
In ersterem Fall zeigte sich, dass die Testpersonen Farben schneller erkannten, wenn die gesuchte Farbe auch einen anderen Namen trug als die umgebenden Farben und im rechten Gesichtsfeld auftauchten.

Ein Beispiel dafür sind die Farben Blau und Grün, die etwa in Europa eigene Namen tragen, in anderen Sprachräumen aber oft nicht unterschieden werden. Die Ergebnisse zeigten, dass Blau und Grün dann schnell unterschieden werden konnten, wenn sie den (englischsprachigen) Testpersonen namentlich angekündigt wurden.
Links: Keine Veränderung durch Sprache
Für das linke Gesichtsfeld zeigten sich keine Unterschiede, egal ob die Menschen vorher wussten, auf welche Farbe sie achten sollten oder nicht. Offenbar spielt also links die Sprache keine Rolle für die Wahrnehmung.
Streit kann weiter gehen
"Es scheint, dass Menschen die rechte, aber nicht die linke Hälfte ihrer visuellen Welt durch die Linse ihrer Muttersprache sehen", fassen die Wissenschaftler ihre Versuche zusammen. Nur die Ergebnisse für die rechte Seite unterstützen demnach die Sapir-Whorf-Hypothese.

Der Streit um die Vorrangstellung von Sprache oder Wahrnehmung kann also weitergehen.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 27.12.05
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   Evolution der Sprache statt Universalgrammatik (18.2.05)
->   Beduinensprache als Entwicklungsmodell (1.2.05)
->   Links im Hirn: Der Sitz von Chomskys "Universal-Grammatik" (23.6.03)
 
 
 
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01.01.2010