News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Verantwortlichkeit statt Willensfreiheit  
  Was ist Willensfreiheit? Ist der Wille durch innere und äußere Umstände determiniert, ist alles schon vorbestimmt oder kann man von freiem Willen nur dann sprechen, "wenn er durch nichts bestimmt ist"? Keines von beidem, meinte der Philosoph Ernst Tugendhat anlässlich eines Vortrags diese Woche in Wien. Er plädiert dafür, Verantwortlichkeit als Kriterium der Willensfreiheit anzunehmen.  
Intellektueller Background
Der 1930 in Brünn geborene Philosoph bewegte sich vorerst im philosophischen Umfeld von Edmund Husserl und Martin Heidegger und wandte sich dann der analytischen Philosophie zu.

Seit Jahrzehnten widmete er sich fast ausschließlich ethischen Problemen. Nachdenken über Ethik bedeutet aber nicht die bloß die Entfaltung einer Theorie.

Tugendhat versteht darunter ein aktives Sich-Einmischen; ein engagiertes Verhalten angesichts brennender aktueller Probleme wie Asylrecht oder Integration von Ausländern.
...
Ernst Tugendhat hielt im Rahmen des Symposions "Freiheit, Bewusstsein und Determinismus" am Philosophischen Institut einen Vortrag und einen Workshop. Organisiert wurde die Veranstaltung von Elisabeth Nemeth und science.ORF.at-Host Herbert Hrachovec.
->   Das Symposion (Online-Zeitung der Uni Wien)
...
Wie zeigt sich Verantwortlichkeit?
Verantwortlichkeit besteht laut Tugendhat "darin, dass man von anderen und von sich selbst zur Rechenschaft gezogen werden kann." Er bezieht sich dabei auf einen Aufsatz des englischen Philosophen Peter Strawson.

Er besagt, dass wir eine Person nur dann als eine handlungsfähige Person Ernst nehmen, wenn wir in der Lage sind, ihr etwas vorzuwerfen.

Wenn es uns gleichgültig ist, was diese Person macht, dann akzeptieren wir sie auch nicht als freie Person. Diese Sichtweise baut darauf auf, dass wir an dieser Person etwas auszusetzen oder zu loben haben.
Handlungsfreiheit/Willensfreiheit
In einer phänomenologischen Annäherung entwickelt Tugendhat sein Konzept der Willensfreiheit als Verantwortlichkeit. Dabei unterscheidet er zwischen Handlungsfreiheit und Willensfreiheit.

Handlungsfreiheit gesteht er auch Tieren zu, die ihre Handlungsfreiheit ausleben können. Willensfreiheit definiert sich durch das rationale Moment. Der Mensch als "animal rationale" im aristotelischen Sinn hat die Möglichkeit, mit Gründen und Argumenten seine Entscheidungen zu begründen.

So kann zum Beispiel ein politisch Gefanger - seiner Handlungsfreiheit im Gefängnis beraubt - entscheiden, ob er zum Verräter an seiner Gesinnung wird oder nicht.
Suspension der Wünsche
Der freie, menschliche Wille beginnt dann, wenn der Mensch die Möglichkeit hat, seine Wünsche zu verneinen, "sie zu suspendieren".

Seine Wünsche suspendieren zu können - darauf hat schon der englische Philosoph John Locke verwiesen - ist ein wesentliches Kriterium für Selbstkontrolle.

Wenn nun der Mensch den linearen Verlauf seiner Wunschproduktion bewusst aufhält, dann greift er in die Kausalkette von Ursachen und Wirkungen ein.
Bindfaden und Knoten
Tugendhat vergleicht nun den Kausalzusammenhang mit einem Bindfaden und die willentlich erfolgte Suspension der intendierten Handlungsmotive mit einem Knoten im Bindfaden. Der Knoten stellt offensichtlich eine Unterbrechung des Bindfadens dar; gleichzeitig besteht der Knoten aus dem Bindfaden, den er unterbricht.

Er ist den gleichen Gesetzen unterworfen wie das ihn umgebende Material. "Jedoch müsse auch die Möglichkeit offen gelassen werden, dass das Geschehen innerhalb des Knotens nicht dem kausalen Fluss unterliegt."

Mit diesem Beispiel macht Tugendhat klar, dass die Frage nach der Determiniertheit der menschlichen Willensfreiheit nicht gänzlich aufgelöst werden kann. Sicher ist, "dass der Mensch nur in einem bestimmten Ausmaß die Möglichkeit hat, seine Wünsche aus Gründen der Vernunft zu verneinen".
Kompatibilismus/Inkompatibilismus
Hier bezieht sich Tugendhat auf die Position des sogenannten "Kompatibilismus". Diese Denkströmung geht davon aus, dass der Determinismus und Willensfreiheit vereinbar seien.

Die Person handelt frei, wenn sie nach Gründen handelt, die dem Handelnden nicht bewusst sind. Der "Inkompatibilismus" postuliert hingegen eine Unvereinbarkeit von Determinismus und Willensfreiheit.

In seiner Version des Kompatibilismus sieht Tugendhat ebenfalls eine "Aktionseinheit" zwischen Willensfreiheit und Determinismus. Im Gegensatz zum Determinismus, der die Willensfreiheit ausschließt, lässt Tugenhat eine "Unschärferelation" zu: "Wir wissen nicht, in welchem Ausmaß die Welt deterministisch ist, das stört uns aber nicht."
Gegen die Vollmundigkeit der Hirnforscher
Vor diesem Hintergrund attackiert Tugendhat Hirnforscher wie Gerhard Roth oder Wolf Singer, die dem Menschen die Willensfreiheit generell absprechen, da sie davon ausgehen, dass alle mentalen Aktivitäten zwingend an neuronale Mechanismen gebunden seien.

Tugendhat erhebt den Vorwurf der "Vollmundigkeit". Anstatt ihre Forschungsergebnisse zu präsentieren, "die teilweise noch im Dunklen tappen", erklärten sich Roth und Singer zu Apologeten einer Denkströmung, die dem Menschen die Willensfreiheit abspricht.
...
Beispiel für fragmentarisches Wissen
Herbert Hrachovec von der Uni Wien vergleicht im Gespräch das fragmentarische empirische Wissen an einem Beispiel: "Es gibt kleine Programme für die Computer, die die Auslastung anzeigen. Es sind dies kleine rote und grüne Kurven, die hinauf- und hinuntergehen. Daran sieht man, wie sehr der Computer belastet wird.

Wenn nun jemand auf Grund dieser Kurven zu unterscheiden glaubt, was ein Webserver, was ein E-Mailtransfer und was ist ein Grafikprogramm, dann muss man dies als 'kühne Vermutung' einschätzen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass man auf Grund der wenigen Informationen diese Schlüsse ziehen kann."
...
Aufruf zu mehr Bescheidenheit
Am Ende des Workshops hatte Tugend einen Ratschlag für die Hirnforscher bereit: "Seid bescheiden!"

Dass der Mensch durch die neuronalen Mechanismen kausal bedingt sei, lasse sich nicht beweisen. Deshalb solle eine bestimmte Richtung der Hirnforschung ihre pseudophilosophische Großmannssucht eindämmen.

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 12.1.06
->   Zum 75. Geburtstag von Ernst Tugendhat (5.3.05)
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Ulrich Körtner: Vom unfreien Willen (28.2.05)
->   Herbert Hrachovec: Bedingungen für Freiheit (9.2.05)
->   Warum Hirnforscher am freien Willen zweifeln (22.11.05)
->   Habermas: Und den freien Willen gibt es doch (19.11.04)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010