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Anna O. - das A und O der Psychoanalyse?  
  Vor 125 Jahren sah der Wiener Arzt Josef Breuer bei seiner Patientin Anna O., was deren Umgebung nicht gesehen hat. Sie ließen sich auf eine ungewöhnliche Behandlung ein, aus der sich die Psychoanalyse Sigmund Freuds entwickelte. Der Krankengeschichte der Anna O. und der Hysterie als "Urkrankheit" der Psychoanalyse bis heute geht die Psychoanalytikerin Monika Huber in einem Gastbeitrag nach.  
Die Krankengeschichte(n) der Anna O.
von Monika Huber

Im Laufe meiner Arbeit als Psychoanalytikerin und im Gespräch mit Berufsfremden bin ich immer wieder konfrontiert mit der Vorstellung, Psychoanalyse bedeute, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen und dauere so viele Jahre, weil es gelte, in der Psychoanalyse möglichst viele vergangene, verdrängte Ereignisse bewusst zu machen und zu erzählen.

Das Hauptaugenmerk einer Psychoanalyse heute liegt weniger auf der erzählten, sondern mehr auf der erlebten Vergangenheit und zwar, wie diese sich in der unmittelbaren Beziehung zwischen Psychoanalytiker und Patient re-inszeniert.
Hysterie als "Ur-Krankheit" der Psychoanalyse
Was Re-Inszenierung bedeutet, lässt sich exemplarisch bereits an der Krankengeschichte einer Hysterie zeigen, die am Anfang der Psychoanalyse steht.

Es ist die Patientin Anna O., die von Josef Breuer behandelt wurde, von der ausgehend die Psychoanalyse ihre revolutionäre Theorie und Methode entwickeln konnte.

Dr. Breuer war ein Arzt mit ausgeprägtem psychologischem Verständnis. Als Hausarzt wurde er zu einer jungen Patientin, "Anna", gerufen, die nicht nur unter einem nervösen Husten litt, sondern, wie Breuer sofort erkannte, unter einer Umgebung, die ihr die ersehnte Aufmerksamkeit versagte und in der sie mit all ihren vielseitigen Begabungen verkümmerte.
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Freud-Vorlesungen zu "großen Krankengeschichten"
Im Freudjahr 2006 veranstalten die Wiener Psychoanalytische Vereinigung und der Arbeitskreis für Psychoanalyse die Vorlesungsreihe "Sigmund Freud - Die großen Krankengeschichten". Beginn ist am 20. und 21. Jänner im Wiener MAK (Stubenring 5), wo u.a. Monika Huber über Anna O. referiert.
->   Mehr zu den Freud-Vorlesungen
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Anna O. und Josef Breuer ...
Die Art und Weise, wie sich nun eine völlig neuartige Beziehung zwischen dieser Patientin und ihrem Arzt entwickelte, kann als "typisch hysterisch" bezeichnet werden: Anna O. ringt darum, eine lang dauernde konflikthafte Beziehung, die mit Gefühlen des Ausgeliefertseins und der Wut verbunden ist, zu lösen, indem sie sich einem Dritten zuwendet - Dr. Breuer.

In dieser "typisch hysterischen" Beziehung wird ein Arzt, ein Psychotherapeut zum idealisierten Retter, der Patient erträumt sich ihn als ein ausschließlich gutes Objekt und die Beziehung als ausschließlich befriedigend.
... eine "typisch hysterische" Beziehung
Es gibt keine unerträglichen Gefühle von Abhängigkeit, Angst und Wut. Die Enttäuschung ist unausweichlich und macht andere Lösungsversuche notwendig.

Eine Lösung ist z.B. die Konversion: Der psychische Konflikt wird in körperliche Symptome umgesetzt. Im Falle von Anna O. waren das Lähmungen sowie Seh- und Sprachstörungen. Die Symptome traten in unterschiedlichen Phasen des Krankheitsverlaufs auf.
Die kathartische Methode
Breuer ging von der Annahme aus, dass die hysterischen Symptome durch vergangene, aber vergessene Ereignisse verursacht wurden.

Mit Hilfe der kathartischen Methode hat er Anna von ihren Symptomen befreit: Die ursächlichen, vergessenen Szenen und die schmerzhaften Affekte wurden in der Hypnose erinnert, neuerlich erlebt und ausgesprochen.
Zuhören - das A und O der Psychoanalyse
Das Entscheidende und Revolutionäre an Breuers Behandlungsmethode war, dass er seine Patientin als Persönlichkeit wahrnahm und ihr zuhörte, sich von ihrem Inneren berühren ließ.

In der Folge drohte er irreversibel in einen Strudel von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen zu geraten, da zu dieser Zeit noch keine Theorie oder Technik der Psychoanalyse für den Umgang mit dem Unbewussten zur Verfügung stand.
Das Verhüllte ist das Spannende
Das Studium dieser Krankengeschichte lohnt sich meines Erachtens bis heute, da sie so viele Facetten der hysterischen Problematik enthält wie es Theorien gibt und sie erschöpft sich dennoch in keiner.

Die Krankengeschichte der Anna O. gibt uns nicht nur Einblick in die Patientin, sondern auch in etwas Charakteristisches für die Psychoanalyse: Nicht das, was über Worte und den Körper zur Sprache kommt, ist das Spannende, sondern das Verdeckte, das Verhüllte. Dies erschließt sich allerdings nur dem, der sich Zeit nimmt und bemüht.
Behandlung der Hysterie heute
Die Psychoanalyse hat sich aus der Behandlung von hysterischen Neurosen entwickelt und ist nach wie vor das Verfahren der Wahl für hysterische Störungen. Einerseits gilt es nach wie vor, sich berühren zu lassen von der unbewussten Innenwelt der Hysterikerin, andererseits setzt die Behandlung eine ausreichende Kenntnis des eigenen Unbewussten voraus.

Ziel ist wie bei jeder psychoanalytischen Behandlung das Wieder-Erleben und Bewusstwerden des Abgewehrten, um eine Nachreifung von Persönlichkeitsanteilen zu ermöglichen.

So wie Breuer versuchten viele, den dazu erforderlichen zeitaufwändigen und mühevollen Prozess zu verkürzen, und scheiterten. Freuds Aussage ist noch immer gültig: "Zur großen Veränderung wird hier wie überall große Arbeit erfordert." (Studien über Hysterie, 1895, J. Breuer u. S. Freud, S. 295)
Ist die Hysterie eine veraltete Diagnose?
Die "Hysterie" der frühen Psychoanalyse wurde auf einen ödipalen Konflikt zurückgeführt und zeichnete sich durch einen umschriebenen Symptomkomplex aus.

Das Erscheinungsbild war geprägt von hysterischen Lähmungen, Blindheiten, eines gespaltenen Bewusstseins und ähnlichen Symptomen.

Heute treten hysterische Symptome in anderer Form auf, zum Beispiel in diffusen Schmerzsyndromen, Kreislaufstörungen, Panikstörungen und anderem mehr. Die Symptome der Hysterie haben sich also verändert, aber das bedeutet nicht, dass es die Hysterie nicht mehr gibt.
Die "Anna O's" sind nicht verschwunden
Eine "Anna O." ist also heute noch möglich und es gibt sie nach wie vor - obwohl sich die gesellschaftliche Rolle von Frauen seither sicherlich zum Besseren gewandelt hat. Der Symptomwandel der Hysterie hat mit der zugrunde liegenden Psychodynamik zu tun.

Zur Lösung bzw. Abwehr eines spezifischen inneren Konflikts mit der frühen Mutter wird die Aufmerksamkeit einer idealisierten Vaterfigur gesucht. Soll dies gelingen, muss die Hysterikerin angepasst an die jeweilige Vaterfigur einer Epoche, eines bestimmten kulturellen Umfeldes, agieren.

Die Hysterie ist nach wie vor eine häufig vorkommende Form der Konfliktverarbeitung und die Psychoanalyse die Methode zur Lösung des Konflikts und zur Heilung der Hysterie.

[20.1.06]
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Monika Huber ist Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV), tätig in eigener Praxis und im Psychoanalytischen Ambulatorium der WPV.
->   WPV
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->   Freud-Jahr 2006 in Radio Österreich 1
science.ORF.at bringt im "Freud-Jahr 2006" eine Reihe von Gastbeiträgen und redaktionellen Texten. Bisher erschienen:
->   Christine Diercks: Die Bedeutung der Psychoanalyse heute (18.1.06)
->   Andre Gingrich: Freud - Zwischen Respekt und Skepsis (9.1.06)
->   Das wird das Sigmund-Freud-Jahr 2006 (2.1.06)
 
 
 
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01.01.2010