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Mäuse-Anatomie: Zweiter Thymus entdeckt  
  Die Anatomie der Maus ist trotz ihrer Jahrzehnte langen Erforschung im Dienst der Medizin noch immer für Überraschungen gut: Ein deutsches Forscherteam bewies nun die Existenz eines voll funktionsfähigen, zweiten Thymus - einem bedeutenden Organ für das Immunsystem. Bisher gingen Forscher nur von einem aus.  
Mit dem erstaunlichen Fund des Immunologen Hans-Reimer Rodewald von der Universität Ulm und seines Teams könnten Ergebnisse einiger bisheriger Studien in Frage gestellt werden.

Wilfried Ellmeier vom Institut für Immunologie der Medizinuniversität Wien beurteilt das Ergebnis gegenüber science.ORF.at: "Es sind sehr überraschende Resultate, die gesamte bisherige Immunologie ist aber sicherlich nicht umzuschreiben."
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Der Artikel "Evidence for a Functional Second Thymus in Mice" ist online in der Fachzeitschrift "Science" (3. März 2006, doi: 10.1126/science.1123497) erschienen.
->   Abstract des Artikels
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Thymus lässt T-Zellen reifen
Der Thymus, auch Bries genannt, ist von entscheidender Bedeutung für das Immunsystem: In diesem Organ reifen die T-Lymphozyten (kurz: T-Zellen) heran, die auf körperfremde Stoffe reagieren. Vom Thymus aus wandern die reifen T-Zellen weiter zu anderen sekundären lymphatischen Organen und erfüllen einen wichtigen Dienst bei der Abwehr von Infektionen.

Der Thymus entwickelt sich im Fötus und ist bei der Geburt am stärksten ausgebildet. Im Laufe des Lebens verliert er seine Funktion und wird damit auch kleiner.

Beim Menschen ist das Brust-Organ in Form von zwei langen Lappen im Gewebe des oberen Mittelfells eingebettet, bei Säugetieren mit waagerechter Körperhaltung - wie etwa den Mäusen - im vorderen.

Bekannterweise kommen bei einigen Säugetieren mehrere Thymus-Anlagen vor. Auch bei menschlichen Föten sei recht häufig ein zweiter, im Halsabschnitt sitzender Thymus entdeckt worden. Doch sein Auftreten sei nach der Geburt eher selten, schreiben Rodewald und sein Team.
->   Thymus bei Wikipedia
Zweites Thymus-Gewebe bereits vermutet
Bei Mäusen gingen die Forscher eher von einem funktionstüchtigen Thymus aus. Allerdings erkannte der französisch-australische Mediziner Jacques Miller bereits in den frühen 1960er Jahren, dass einige Immun-Funktionen bei Mäusen - nachdem ihnen der Thymus entfernt wurde - doch aufrechterhalten blieben. So schloss er, dass es noch anderes Thymus-Gewebe bei Mäusen geben muss.

Jahre später entdeckte ein Team um Lloyd Law der National Institutes of Health, dass sich tatsächlich ein einfacher Thymus-Lappen im Nacken der Mäuse befinden kann, wie ein Online-Begleitartikel der Fachzeitschrift "Science" anführt. Doch ihm wurde von der Wissenschaftsgemeinde keine weitere Bedeutung für die Immun-Abwehr zugesprochen.
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Der "Vater des Thymus"
Jacques Miller entdeckte 1962 den Thymus als ein Organ, das für das Immunsystem eine große Rolle spielt. Seine zweite größere Entdeckung folgte einige Jahre später: Er erkannte, dass Säugetiere zwei Arten der Lymphozyten (weiße Blutkörperchen) besitzen, B-Lymphozyten (kurz: B-Zellen) sowie T-Lymphozyten (T-Zellen). Seine Arbeiten ebneten wohl auch den Weg für die Untersuchungen des Australiers Peter Doherty, der mit seinem Schweizer Kollegen Rolf Zinkernagel herausfand, wie das Immunsystem vireninfizierte Zellen erkennt. Beide erhielten dafür 1996 den Nobelpreis für Medizin.
->   Jacques Miller (Wikipedia)
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->   Nobelpreis Medizin 1996
Überraschung sitzt im Nacken
Das Team um den Immunologen Rodewald bestätigte nun, dass bei gewissen Mäuse-Stämmen sehr häufig ein zweiter Stecknadelkopf großer Thymus vorkommt.

Während der Haupt-Thymus im Brustkorb der Mäuse liegt, entdeckten die Wissenschaftler den zweiten an den Halswirbeln sitzend. Und: Dieser zeigte die gleichen Eigenschaften wie sein "großer Bruder" und produziert ebenfalls reife T-Lymphozyten, so die Forscher.

Der kleinere Thymus konnte außerdem erfolgreich anderen Mäusen transplantiert werden, die wegen eines genetischen Defekts keinen normalen Thymus hatten.

Der Leiter der Klinischen Immunologie am Universitäts-Klinikum Graz, Gernot P. Tilz, geht davon aus, dass es noch weitere Experimente braucht, um den "Sensationsfund" zu belegen. Im Gespräch mit science.ORF.at zeigte er sich allerdings grundsätzlich wenig erstaunt, "dass die Evolution doch immer wieder mit der einen oder anderen Überraschung aufwartet."
Bisherige Studienergebnisse zu revidieren?
Es stellt sich die Frage, ob vorhergehende Experimente, bei denen Mäusen der Thymus entfernt wurde, von den richtigen Voraussetzungen ausgegangen sind.

Für Wilfried Ellmeier vom Wiener Institut für Immunologie ist es nicht so, dass mit dieser neuen Erkenntnis alle vorherigen Studien in Zweifel gezogen werden müssen, "doch bei einigen laufenden Kontroversen trägt sie sicherlich zur Aufklärung bei".

So etwa bei der Frage, ob die im Darm vorkommenden T-Zellen zentralen oder peripheren (extrathymischen) Ursprungs seien.

Lena Yadlapalli, science.ORF.at, 3.3.06
->   Immunologie Ulm
->   Klinische Immunologie, LKH Graz
->   Institut für Immunologie, Medizinuni Wien
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01.01.2010