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Die "unsichtbare Hand" der Kakerlaken  
  Wie können Insekten optimale Entscheidungen treffen, obwohl sie nicht - wie Menschen - zu rationalen Erwägungen fähig sind? Durch eine "unsichtbare Hand" vulgo Selbstorganisation, meinen belgische Forscher, die nun ein neues Verhaltensmodell vorgestellt haben.  
Jose Halloy und seine Kollegen von der Université Libre de Bruxelles überprüften ihre Theorie an Kakerlaken-Larven, die sich genau so verhielten wie vom Modell vorhergesagt: Demzufolge kann es Entscheidungen in der Gruppe auch ohne Entscheidungsträger geben.
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Die Studie "Collegial decision making based on social amplification leads to optimal group formation" von Jean-Marc Amé et al. erscheint zwischen 27. und 31. März 2006 auf der Website der "Proceedings of the National Academy of Sciences".
->   Zur Studie (sobald online)
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"Im Zweifel das Richtige"
Wie wählt man in der Gruppe zwischen Handlungsalternativen? Ganz einfach: "In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige", so Karl Kraus' spöttische Empfehlung. Wem das nicht weiterhilft, der wird wohl darüber diskutieren.

Was aber tun Tiere, die nicht wie wir zu sprachlich vermittelten und rationalen Diskussionen fähig sind - und dennoch etwas entscheiden müssen? Gute Frage.

Bei hierarchischen strukturierten Tiergruppen wird es vermutlich das Alpha-Tier sein, das zeigt, wo es lang geht. Nur gibt es im Tierreich sehr oft anonyme Verbände ohne Chef und Rangordnung, etwa bei Fischen, Vögeln, Insekten und anderen Wirbellosen.
Opinion Leader in der anonymen Gruppe?
Hier gingen Biologen bis vor kurzem von Modellen aus, in denen trotzdem einem Tier die Entscheidungshoheit zugestanden wurde. Anders ausgedrückt: Zwar sind in diesen Situationen alle Mitglieder einer Gruppe gleichrangig, aber eines davon zeichnet sich durch eine Vorreiterrolle aus, die alle anderen beeinflusst.

Das hat freilich etwas Willkürliches an sich. Wenn schon die Sozialstruktur von Lebewesen völlig egalitär ausgeprägt ist, dann sollte sich dieser Sachverhalt auch in Modellen wieder finden.
Neues - egalitäres - Modell
Dieser Meinung war offenbar auch ein Team um Jose Halloy von der Université Libre de Bruxelles, das nun ein einfaches und völlig neuartiges Modell zur Entscheidungsfindung in Tiergruppen vorgestellt hat.

Nach ihrer Vorstellung genügt es, von vier Voraussetzungen auszugehen: Wenn Tiere etwa einen Unterschlupf suchen, dann tun sie das nicht zielgerichtet, sondern auf zufällige Art und Weise. Zweitens wählen sie diejenigen Plätze aus, die den Ansprüchen am ehesten gerecht werden.

Drittens beeinflussen sie einander dabei positiv, wobei alle Interaktionen gleichwertig sind. Und viertens können Unterkünfte nur dann betreten werden, wenn sie - trivialerweise - nicht schon überfüllt sind.
Test mit Kakerlaken
 
Bild: PNAS

Soweit die grundlegenden Ingredienzien des Modells. Die Brüsseler Forscher testeten die Voraussagen des Entwurfs nun mit Kakerlaken-Larven (Blattella germanica), die sie in Petrischalen unterbrachten. Darin platzierten sie Behausungen (Bild oben: rot), deren Fassungsvermögen variiert wurde.

Wurden beispielsweise 50 Kakerlaken in eine Schale mit drei Unterkünften gesetzt, von denen jede 40 Tiere beherbergen konnte, teilten sich die Kakerlaken auf je zwei Gruppen à 25 Tiere auf, die dritte Behausung blieb dagegen leer. Wurde die Kapazität der Behausungen auf 50 erhöht, konzentrierte sich die Gruppe auf lediglich einen Ort - ganz so, wie es das Modell vorhersagte.
Kein Entscheidungsträger notwendig
Nach den belgischen Forschern tendieren die Tiere dazu, sich in möglichst großen Gruppen (bzw. möglichst wenigen Unterkünften) aufzuhalten, weil sie in dieser Konstellation am meisten Schutz genießen. Interessant ist, dass sich dieses Muster offenbar automatisch einstellt.

Dazu sei, wie Halloy und Kollegen betonen, keine übergeordnete Entscheidungsinstanz notwendig. Die Anordnung der Kakerlaken entsteht gewissermaßen durch eine "unsichtbare Hand", die lediglich aus den einfachen Verhaltensregeln und der Interaktion der Tiere besteht.

Halloy und Kollegen vermuten, dass es auch bei Ameisen, Fischen und anderen Wirbeltieren ähnliche Verhaltensmuster geben könnte.

Robert Czepel, science.ORF.at, 28.3.06
->   Selbstorganisation - Wikipedia
->   Kakerlaken - Wikipedia
->   Université Libre de Bruxelles
 
 
 
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01.01.2010