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Willensfreiheit: Plädoyer für Ende der Debatte  
  Inwieweit der Mensch auf Grund eines freien Willens über seine Handlungen entscheiden kann, ist Gegenstand heftiger Kontroversen zwischen Neurobiologen und Geisteswissenschaftlern. Jan Philipp Reemtsma, der Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, erklärt diese Frage im aktuellen "Merkur" zu einem Scheinproblem - und plädiert für ein Ende der "überflüssigen" Debatte.  
Der Literaturwissenschaftler Reemtsma sieht diesen Streit weniger in fundamentalen Auffassungsunterschieden als in sprachlichen Missverständnissen zwischen den einzelnen Wissenschaften begründet. Er macht sich in seinem Text für einen praxisbezogenen Zugang zur Frage der Willensfreiheit stark.
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Jan Philipp Reemtsmas Artikel "Das Scheinproblem 'Willensfreiheit' - Ein Plädoyer für das Ende einer überflüssigen Debatte" ist in der aktuellen Ausgabe des Merkur (Nr. 683, März 2006, S. 193-206) erschienen.
->   Zur Online-Version des Artikels
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Was ist "Willensfreiheit"?
Reemtsma definiert in einem ersten Schritt sein Verständnis von "Willensfreiheit". Damit sei gemeint, dass wir unterstellen, die Leute hätten (mehrheitlich und in mancher Hinsicht) anders handeln können, als sie es getan haben.

Die Einschränkung "mehrheitlich" bedeute, dass wir zugeben, dass es psychische Verfasstheiten gibt, bei denen wir nicht davon sprechen können, dass die Person X anders handeln hätte können, als sie gehandelt hat.

Die Einschränkung "in mancher Hinsicht" zielt darauf ab, nicht jeden Atemzug als freie Willensentscheidung zu begreifen.
"Willensfreiheit" als Fundament der Gesellschaft
Ohne die Unterstellung eines freien Willens, ohne die Möglichkeit eines "Auch-anders-handeln-Könnens" wäre unsere Gesellschaft nicht denkbar, schreibt Reemtsma. Sie bilde die Basis der gesellschaftlichen Konvention des Moralisierens, der Institutionalisierung des Rechts und der individuellen Konstitution des Gewissens.

Da wir auf die Idee des freien Willens als handlungsleitende Unterstellung nicht verzichten können, sei es nicht sonderlich sinnvoll, zu debattieren, ob es sich bei dieser Idee um eine Fiktion handelt oder nicht.
Neurobiologische und kulturelle Erklärungen gleichwertig
Nichts spreche, so Reemtsma, gegen die Annahme, dass Gedanken, Stimmungen oder Entscheidungen als Hirnvorgänge in einem neurobiologischen oder biochemischen Vokabular vollständig beschrieben werden könnten.

Allerdings spreche auch nichts für die Annahme, dass deshalb ein Vokabular der moralischen, ästhetischen oder juristischen Beschreibung eines solchen Verhaltens überflüssig würde.
Gegenwärtige Aufregung sprachlich bedingt
Anhand der Debatte um das berühmte "Libet-Experiment" versucht Reemtsma zu zeigen, dass die aktuelle Diskussion um den freien Willen hauptsächlich das Resultat sprachlicher Unschärfen ist.

Das in den 1970er Jahren vom US-Neurobiologen Benjamin Libet durchgeführte Experiment hatte gezeigt, dass im Gehirn schon vor dem Treffen eines Entschlusses, eine gewisse Handlung auszuführen, ein Bereitschaftspotenzial für diese Handlung entsteht. Das wurde als Beweis dafür gedeutet, dass es Willensfreiheit nicht gibt.

Für Reemtsma kann man zu dieser Deutung des Experiments nur dann kommen, wenn man die Vokabel "Entschluss" und "Entscheidung" verwechselt. Wäre jeder unserer Bewegungen ein Entschluss im Sinne einer "Entscheidung" vorgeschaltet, würden wir nicht durch den Tag kommen. Deswegen sei unser Denken aber noch lange nicht "unfrei".
->   Das Libet-Experiment (Philosophie verständlich)
Woher kommen die Gedanken?
Würde jemand auf die Frage "Woher kommen unsere Gedanken?" antworten, dass diese "aus so und so beschaffenen neuronalen Prozessen" kommen, sei das keine sinnvolle Antwort, meint Reemtsma.

Denn die Gedanken würden nicht "aus" neuronalen Prozessen kommen, sondern das, was im Sprachspiel unseres Alltags "unsere Gedanken" heißt, werde im Sprachspiel der Neurobiologie als "so und so beschaffene neuronale Prozesse" bezeichnet.

Obwohl es keine Kausalbeziehungen zwischen diesen beiden Bezeichnungen gebe, habe sich doch diese Redeweise eingebürgert. Und es sei allein die Redeweise, die die gegenwärtigen Aufgeregtheiten produziert, so Reemtsma.
Kampf um die Deutungsmacht
Aktuelle Verständigungsschwierigkeiten gehen nach Reemtsma aber auch auf den Anspruch unterschiedlicher Wissenschaften zurück, als "Grundlagenwissenschaft" Letztaussagen über den Menschen machen zu können. War es lange Zeit die Philosophie, die diesen Anspruch erhoben hat, und später die Physik, versuche es nun eben die Neurobiologie
"Willensfreiheit" in der Alltagspraxis
Grundlagentheoretische Gefechte würden daher nicht weiterführen, so Reemtsma. Wichtiger sei eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rolle Freiheit in unserer "lebensweltlichen Praxis" - und hier insbesondere im Bereich des Rechts - spielt.

Im Alltagsverständnis bedeute "Willensfreiheit", dass man handeln kann, wie man selbst handeln möchte. Dass dieses "Wollen", diese "Entscheidung" im Gehirn stattfindet und sich als seine Abfolge neuronaler Prozesse beschreiben lässt, tue nichts hinzu. Denn, so Reemtsma: Wo sonst sollten diese Dinge ablaufen?
Der freie Wille und das Recht
Die Unterstellung, das jemand anders hätte handeln können, als er gehandelt hat, bildet auch die zentrale Grundlage unseres Rechtssystems.

Die Neurobiologie könnte zwar dazu beitragen, dass wir zu bestimmten Taten und Tätern aufgrund neuer Einsichten anders Stellung beziehen als bislang, meint Reemtsma. Wer jedoch meine, die Neurobiologie könne das Strafrecht auf ein neues wissenschaftliches Fundament stellen, habe das Funktionieren moderner Gesellschaften nicht verstanden.
Die Debatte geht weiter
Reemtsmas Plädoyer, die Debatte um die "Willensfreiheit" zu beenden, hat vorderhand genau das Gegenteil bewirkt und die Diskussion neu entfacht.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kritisierte Christian Geyer Reemtsma als unverbesserlichen Kompatibilisten - als einen jener "Stifter fauler Friedensschlüsse", die "Biologisten" und "Kulturalisten" an einem Tisch zusammenzuführen versuchen.

Geyer, der 2004 selbst ein Buch zu "Hirnforschung und Willensfreiheit" herausgegeben hat, sieht den Zug offenbar bereits in Richtung der "Biologisten" abgefahren. Mit "Abwiegeln", so Geyers Vorwurf Richtung Reemtsma, lasse sich "der neue Mensch, der draußen vor der Türe steht, nicht nach Hause schicken". Auch Geyers Beitrag wird nicht der letzte zu dieser Debatte sein.

Martina Nußbaumer, science.ORF.at, 3.4.06
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Christian Geyers Artikel "Nur Schein? Jan Philipp Reemtsma will die Hirndebatte ausbremsen" wurde im Feuilleton der FAZ vom 28.3.2006 veröffentlicht. Das von ihm herausgegebene Buch "Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente" erschien 2004 im Suhrkamp Verlag und fasst die deutsche Binnendebatte zum Thema zusammen.
->   Das Buch bei Suhrkamp
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->   Jan Philipp Reemtsma am Hamburger Institut für Sozialforschung
Mehr zur Debatte über "Willensfreiheit" auf science.ORF.at:
->   Verantwortlichkeit statt Willensfreiheit (12.1.06)
->   Serie von Herbert Hrachovec - Bedingungen für Freiheit (9.2.05)
->   Warum Hirnforscher am freien Willen zweifeln (22.11.04)
->   Habermas: Und den freien Willen gibt es doch (19.11.04)
 
 
 
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01.01.2010