News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 
Erbgut von rätselhaftem Einzeller entziffert  
  Das Erbgut eines rätselhaften Einzellers haben Wiener Mikrobiologen entziffert: Die so genannten Anammox-Bakterien haben einen besonderen Stoffwechsel und könnten sich einmal als eifrige Abwasserreiniger erweisen.  
Die Anammox-Bakterien sind erst seit wenigen Jahren bekannt und können im Labor in Reinkultur nicht nachgezüchtet werden. Daher mussten Bruchstücke der Erbsubstanz aus einer Probe, die Millionen DNA-Stücke von anderen Bakterien enthielt, herausgesucht und regelrecht zusammengepuzzelt werden.

Der bei keinem anderen Lebewesen beobachtete Stoffwechsel der Einzeller hat nicht nur globale Bedeutung, sondern könnte laut Michael Wagner vom Department für Mikrobielle Ökologie der Universität Wien und seinem Team auch für die Abwasserreinigung genutzt werden.
...
Der Artikel "Deciphering the evolution and metabolism of an anammox bacterium from a community genome" ist in der Fachzeitschrift "Nature" (Bd. 440, S. 757 und S. 790, 6. April 2006) erschienen.
->   Abstract
...
Existenz lange umstritten
Bild: M. Wagner
Nachweis von Anammox-Bakterien (rot) im Biofilm einer Kläranlage mit Hilfe von Gensonden)
Anammox-Bakterien besitzen die einzigartige Fähigkeit, ohne Sauerstoff Ammonium in Luftstickstoff umzuwandeln.

Bereit 1977 sagte der Wiener Physikochemiker Engelbert Broda auf Grund theoretischer Überlegungen die Existenz solcher Einzeller voraus. Doch seine Hypothese blieb lange Zeit umstritten, erst 1999 gelang niederländischen Forschern der Nachweis.

Kurz darauf konnte ein Team um Wagner mit Hilfe molekularer Methoden erstmals ein Anammox-Bakterium in einer Kläranlage direkt nachweisen.

Mittlerweile weiß man, dass diese Bakterien-Art in großer Zahl im Meer vorkommt und über die Hälfte des Stickstoffs in der Erdatmosphäre produziert.
Könnten Kläranlagen nutzen
"Anammox-Bakterien haben aber nicht nur für das Ökosystem Erde globale Bedeutung, sie könnten auch in der Abwasserreinigung von Nutzen sein", so Wagner.

Sie könnten in speziellen Reaktoren einer Kläranlage zur Entfernung von Stickstoffverbindungen eingesetzt werden.
Ammonium-Abbau in Kläranlagen aufwendig
Derzeit muss Ammonium, ein Abbauprodukt von Harnstoff, das in hoher Konzentration in Kläranlagen vorkommt, sehr aufwändig in zwei Verfahrensschritten in zwei Klärbecken abgebaut werden.

Notwendig ist dies, weil es andernfalls zu einer Belastung der Gewässer mit Ammonium und Nitrat und damit zur Überdüngung kommt.
Internationales Team nimmt sich Genom vor
Bereits 2000 schlug Wagner vor, das Genom des Bakteriums zu entziffern, stieß mit dem Vorhaben aber auf große Skepsis. Es schien unmöglich, die Erbsubstanz eines Einzellers aus einer Probe, die eine Vielzahl verschiedener Bakterien enthält, zusammenzusetzen.

In einem 37 Wissenschaftler umfassenden Konsortium, an dem neben Wagner auch Forscher aus den Niederlanden, Frankreich und Deutschland beteiligt waren, ging man dennoch ans Werk.
98,5 Prozent sind jetzt entziffert
Nach sechs Jahren hat man nun 98,5 Prozent des Erbguts entziffert. Dafür mussten aus einer Probe 500 Millionen Nukleotide, die Bausteine der Erbsubstanz, identifiziert werden.

Vier Millionen davon konnten schließlich dem Anammox-Bakterium zugeordnet werden. Zu Beginn des Projekts war nur ein Stück eines einzigen Gens des Mikroorganismus bekannt.
Genom größer als vermutet
Zur Überraschung der Forscher ist das Anammox-Genom wesentlich größer als ursprünglich angenommen. Es ist ein erstaunlich komplexes Bakterium, das physiologisch wesentlich vielseitiger ist, als die Wissenschaftler ursprünglich vermutet hatten.

Der Einzeller kann eine Vielzahl unterschiedlicher Verbindungen als Energiequelle nützen und auch Metallionen wie Mangan oder Eisen "veratmen".
Chlamydien-Verwandschaft
Die Wiener Wissenschaftler zeigten auch, dass die Bakterien relativ nahe mit den Chlamydien verwandt sind, die zu den am weitesten verbreiteten Krankheitserregern beim Menschen gehören.

Eine der spannenden Fragen für die zukünftige Forschung, so Wagner, sei es herauszufinden, durch welche Evolutionsschritte es den Anammox-Bakterien bzw. den Chlamydien gelungen ist, ausgehend von einem gemeinsamen Vorfahren solch unterschiedliche Ökosysteme wie die Weltmeere bzw. den Menschen zu besiedeln.

[science.ORF.at/dpa, 6.4.06]
->   Michael Wagner - Department für Mikrobielle Ökologie
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   "Leck" im globalen Stickstoffhaushalt entdeckt (19.4.05)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010