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Wesensverwandt: Psychoanalyse und Demokratie  
  Der von den Nazis vertriebene Psychoanalytiker John S. Kafka gedachte bei einer Veranstaltung Freitagabend in Wien der politischen Bedeutung Sigmund Freuds. Die Psychoanalyse ist ihm zufolge nicht nur eine Therapie individueller Störungen, sondern auch hilfreich für das Verstehen und Gestalten sozialer Prozesse. Symbolträchtiger Ort seines Vortrags war das Parlament in Wien.  
Gesetze sind Kulturgrenze
Eveline List, Historikerin und Kafkas Vorrednerin, steckte den von Sigmund Freud vorgegebenen Rahmen ab: Ohne verbietendes Gesetz gibt es keinen Staat, sagt die Psychoanalyse.

Die Zivilisation gründet nach Freud auf der Macht des Verbots, die Gesetzlichkeit gibt den Rahmen des Möglichen vor, ist insofern "Kulturgrenze".
Toleranz entscheidend
Auch Kafka unterstrich die Bedeutung dieser Grenze für Freud: Der Schöpfer der Psychoanalyse sei gegenüber Mitstreitern, die nach unmittelbaren sozialen und politischen Veränderungen strebten, immer sehr skeptisch gewesen.

Die psychoanalytische Erfahrung zeige, dass Gesetze als "Rahmen zur freien Erforschung und Selbsterforschung notwendig" sind. Diese Gesetze müssten aber "Gesetze der Toleranz" sein, betonte Kafka, der sich auch positiv auf Karl Poppers "Offene Gesellschaft" bezog.
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Symposion im Wiener Parlament
Barbara Prammer (SPÖ), die Zweite Präsidentin des Nationalrats, hatte anlässlich des 150. Geburtstags von Sigmund Freud am 7.4.06 zum Symposion "Psychoanalyse, Gesetz und Demokratie" eingeladen. Den Festvortrag zur "Bedeutung der psychoanalytischen Einsichten für die Demokratie" hielt John S. Kafka.

Im Rahmen der Veranstaltung wurde auch die neueste Ausgabe der "Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit" (1/06) vorgestellt mit dem Titel "Freud und die Folgen".
->   Mehr über die Zeitschrift (Studienverlag)
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Psychoanalyse und Demokratie: Offene Systeme
Psychoanalyse und Demokratie haben eine Reihe von Gemeinsamkeiten, führte Kafka aus. Bei beiden handle es sich um offene Systeme. Beide würden die Möglichkeit bieten, ein und dieselbe Situation neu verstehen zu können und einen anderen Umgang mit ihr zu finden.

Das beginne schon beim berühmten Freudschen Versprecher, der scheinbar zufällig und unbeabsichtigt auf etwas anderes, etwas tiefer Gelegenes verweist und neues Verstehen ermöglicht.
Möglichkeiten der Veränderung
Die Psychoanalyse bilde den Raum für eine Selbstreflexion, die Individuen verändern kann. Genauso ist es nach Ansicht Kafkas auch die lebendige Demokratie, die eine Debatte darüber führt, "was möglich ist".

Zwar gebe es im psychoanalytischen Prozess eine Art "Gewalt der Interpretation" - jede Deutung sagt, dass das bisherige Verstehen falsch war oder zumindest ungenügend. Dies aber könne zu Veränderungen führen, die zu einem späteren Zeitpunkt als befreiend empfunden werden.
Entscheidende Rolle der Erinnerung
In seinem von zahlreichen Anekdoten gespickten Vortrag gelang es Kafka eindrucksvoll, Persönliches mit Theoretischem zu verbinden.

Bei beiden spielt die Erinnerung eine entscheidende Rolle: die Erinnerung an die Vertreibung durch die Nazis und an den Holocaust (und das Vergessen der meisten Hiergebliebenen) auf der einen Seite, die Arbeit mit der Erinnerung in der Psychoanalyse auf der anderen Seite.
Opferdenkmäler sind "organisierte Amnesie"
Kafka unterstützt die These der Historikerin Elisabeth Domansky, der zu Folge "das Erinnern an die Opfer dem Vergessen der Täter" dient. Opferdenkmäler seien "organisierte Amnesie", Denkmäler der Täter nie gebaut worden.

Das positive Gegenbeispiel laut Kafka: In den USA werde an die Sklaverei nicht durch "Sklavendenkmäler" erinnert, sondern durch Denkmäler an jene Gesetze, die die Sklaverei abgeschafft und verboten haben. In diesem Sinne hält er auch die österreichischen Verbotsgesetze für die beste Form von Denkmälern.

Ganz entscheidend sei es, das Gedächtnis zu bewahren und die "Gedächtnismörder" zu bekämpfen.
Vormund war Hitlers "Edeljude"
John Kafka, geboren in Linz, musste nach dem "Anschluss" 1938 aus Österreich fliehen, heute lebt er in den USA. Als er sechs Jahre alt war, starb sein Vater, sein neuer Vormund wurde Eduard Bloch, der während der Jugend von Adolf Hitler der Hausarzt der Familie Hitler war.

In manchen Büchern wird Bloch als der persönliche "Edeljude" Hitlers bezeichnet. Kafka hat sich später intensiv mit der Biographie seines Vormundes auseinander gesetzt.
Nazi-Wahn führte zu Arbeit mit Psychotikern
Wie Kafka bei seinem Vortrag erzählte, führte die "Verrücktheit" des Holocaust zu seiner Beschäftigung mit Psychosen und zur Arbeit mit Psychotikern, die ihn auch bekannt machte.

Sein Buch "Jenseits des Realitätsprinzips: Multiple Realitäten in Klinik und Theorie der Psychoanalyse" gilt als wichtiges Standardwerk.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 7.4.06
->   Mehr über Kafkas Buch "Jenseits des Realitätsprinzips"
->   Freud-Jahr 2006 in Radio Österreich 1
Mehr zum Freud-Jahr 2006 in science.ORF.at:
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01.01.2010