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Psychoanalyse: Vernunft in Zeiten der Gewalt  
  Sigmund Freud war pessimistisch, was einen möglichen Beitrag der Psychoanalyse zur Verbesserung der Gesellschaft betrifft. Waren es zu seiner Zeit die Nazis, die Schrecken verbreiteten, so ist es heute der Terror und die Reaktionen, die er auslöst, konstatiert der Psychoanalytiker Vamik Volkan in einem Gastbeitrag. Als langjähriger Kenner des Nahost-Konflikts beschreibt er den Zusammenhang von bedrohten Identitäten und sozialer Regression - und glaubt, dass die Psychoanalyse in Zeiten der Gewalt auch weiter eine Stimme der Vernunft sein kann.  
Psychoanalyse und Großgruppen
von Vamik Volkan

Als ich 2003 die Ausstellung "Freuds verschwundene Nachbarn" besuchte, fiel mir ein Brief auf, in dem die Nazi-Behörden Freuds Schwestern aufforderten, ihre Wohnungen zu verlassen.

Freud selbst musste seine Wohnung in der Berggasse 19 aufgeben, die Geschichte seiner erzwungenen Emigration ist wohlbekannt. Es blieb ihm zwar das Schicksal von Millionen anderer Juden erspart, aber auch er wurde erniedrigt und gedemütigt.

Heuer feiert Wien den 150. Geburtstag von Sigmund Freud, seine Bilder sind in der gesamten schönen Stadt zu sehen. Als türkisch-amerikanischer Psychoanalytiker freue ich mich, in dieser Zeit Fulbright/Sigmund Freud Foundation Visiting Scholar of Psychoanalysis in einem Büro der Berggasse 19 sein zu dürfen.

Mich beeindrucken vor allem die vielen jungen Menschen, die heute täglich Freuds ehemalige Heimat - nunmehr ein Museum - besuchen und sich mit ihm und der Psychoanalyse beschäftigen.
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Veranstaltungs-Hinweis
Der Psychoanalytiker Vamik Volkan nimmt am Wochenende teil am Symposion "Psychoanalysis and Politics. Violence-Aggression-Regression", veranstaltet von der Sigmund Freud Foundation und dem Bruno Kreisky Forum für Internationalen Dialog.
Zeit: 13. Mai, 14-19 Uhr
Ort: Bruno Kreisky Forum, 1190 Wien, Armbrustergasse 15
->   Mehr Über die Veranstaltung (Freud Museum)
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Wieder angsterfüllte Tage
Im Jahr 2006 müssen diese jungen Leute gemeinsam mit uns allen täglich im TV mit ansehen, wie einander Menschen wieder im Namen von Großgruppenidentitäten - religiöser oder ethnischer Art - verletzen und töten.

Die angsterfüllten Tage des Dritten Reichs werden heute abgelöst durch jene des islamistischen Terrors und der Antwort des Westens.

Einmal mehr erinnern wir uns, wie Albert Einstein 1932 einen Brief an Sigmund Freud geschrieben hat mit der Frage, ob die Psychoanalyse Einsichten liefern könnte, mit der man die Menschheit von der Kriegsgefahr befreien könnte.
Pessimismus von Freud
In seiner Antwort drückte Freud wenig Hoffnung aus, Krieg oder Gewalt beenden zu können. Auch die Möglichkeiten der Psychoanalyse, menschliches Verhalten über die Einzelperson hinaus ändern zu können, beurteilte er pessimistisch.

Dieser Pessimismus Freuds wurde von vielen seiner Nachfolger geteilt. Das hat meiner Ansicht nach dazu geführt, dass die Psychoanalyse zu Fragen der internationalen Politik wenig beigetragen hat.
Israel und Palästinenser: Psychologisches Fallbeispiel
1977 besuchte der damalige Präsident Ägyptens Anwar-el-Sadat Israel und überraschte damit die politische Welt. In seiner Rede vor der Knesseth, dem israelischen Parlament, sprach er von psychologischen Barrieren zwischen Arabern und Israelis und meinte, dass sie zu 70 Prozent für alle Probleme zwischen den beiden verantwortlich seien.

Mit dem Segen der ägyptischen, israelischen und amerikanischen Regierung brachte ein Komitee der American Psychiatric Association - mit mir als Mitglied - im Anschluss an diese Rede einflussreiche Menschen der Region für inoffizielle Verhandlungen zusammen.

Zwischen 1979 und 1986 trafen sich so Israelis, Ägypter und Palästinenser - das waren sieben Jahre des arabisch-israelischen Konflikts, die auch Gelegenheit boten, die Psychologie von Großgruppen zu studieren.
Großgruppen: Individuen tanzen um den Führer
Wenn ich an die klassische Freud-Theorie von Großgruppen denke, stelle ich mir Menschen vor, die um einen riesigen Maibaum - den Gruppenführer - aufgestellt sind. Die Individuen tanzen um den Baum, identifizieren sich miteinander und idealisieren ihren Führer.

Ich habe diese Metapher ein wenig erweitert und stelle mir nun ein riesiges Zelt vor, das sich über alle Gruppenmitglieder erstreckt. Die Zeltplanen repräsentieren die Großgruppen-Identität.

Meiner Ansicht nach besteht das Wesen der Psychodynamik von Großgruppen in der Aufrechterhaltung ihrer Identität, die Interaktion von Führer und einzelnen Individuen ist nur ein Teil dieser Anstrengung.
Wenn die Identität bedroht wird ...
In unserem Alltag sind wir uns dieser "zweiten Haut" - der Zeltplane - nicht bewusst, genauso wenig wie wir bewusst atmen. Sobald wir aber eine Lungenentzündung bekommen, bemerken wir jeden einzelnen Atemzug.

Ähnlich verhält es sich auch mit der Leinwand des Zeltes, sobald sie erschüttert wird oder einreißt. Dann werden wir richtig besessen von dieser zweiten Haut und unsere individuelle Identität wird zweitrangig. (Ich spreche hier ganz allgemein von Prozessen in Großgruppen und lasse einige Personengruppen aus, z.B. Nonkonformisten oder Dissidenten.)

Die Identität unserer Großgruppe macht uns Sorgen und wir werden alles dafür tun, um sie zu stabilisieren, zu reparieren und zu beschützen. Dabei sind wir bereit, selbst extremen Sadismus oder Masochismus zu tolerieren.
... kommt es zur sozialen Regression
Genau um diese Prozesse geht es bei dem Symposion am 13. Mai in Wien. Wenn die Identität einer Großgruppe in Gefahr ist - und das kann aus einer Vielzahl von Gründen geschehen -, regrediert die ethnische, nationale, religiöse oder ideologische Großgruppe.

Großgruppen verfügen über sehr spezifische Eigenschaften, die auf über Jahrhunderte gebildeten, gemeinsamen Vorstellungen von Geschichte und Mythen beruhen. Deshalb sollte die Untersuchung der Anzeichen und Symptome ihrer Regression auch ihre spezifische Psychodynamik beinhalten.
Terroristen und ihre Bekämpfer ähnlich
Heute sind wir in eine neue Phase des Terrorismus eingetreten und können überall diese soziale Regression beobachten. Die regressiven politischen Doktrinen jener, die gegen die "Terroristen" ankämpfen ähneln mittlerweile den Ideen der "Terroristen".

Sinngemäß lauten sie: "Wir haben die absolute Wahrheit und daher sind wir besonders, von Gott geschickt und allmächtig. Aber wir werden attackiert. Daher haben wir auch das Recht, jene anzugreifen, die 'böse' sind."
Psychoanalyse gegen Regressionstendenzen
Jene Stimmen, die versuchen, die Ursachen für Gewalt zu erkennen, Emotionen zu bezähmen und Menschen nicht zu erniedrigen und in Kategorien einzuteilen, sind unhörbar.

Die Sigmund Freud Privatstiftung will versuchen, diesen Stimmen wieder Gehör zu verschaffen, gegen die Regressionstendenzen von Großgruppen anzutreten und mögliche Wege vorzuschlagen, wie mit der massiv gewachsenen Gewaltbereitschaft umgegangen werden kann.

Die "Terroristen" sind sicherlich eine reale Bedrohung - und vor uns liegen noch große Gefahren. Aber wir brauchen eine Stimme, die vor dem Hintergrund psychoanalytischer Erfahrungen zur Zivilisierung dieser sozialen Bedrohungen und Spannungen beitragen kann.

[12.5.06]
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Über den Autor
Vamik Volkan ist emeritierter Psychoanalytiker an der University of Virginia, wo er das "Center for the Study of Mind and Human Interaction" gegründet hat, und zur Zeit Fulbright/Sigmund Freud Foundation Visiting Scholar in Wien.
->   Publikationsliste von Vamik Volkan (University of Virginia)
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->   Freud-Jahr 2006 in Radio Österreich 1
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01.01.2010