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Aymara-Sprache: Zurück in die Zukunft  
  Wenn wir die Zukunft in Beziehung zu unserem Körper setzen, ist klar: Sie liegt vor uns. Im Gegensatz zur Vergangenheit, die wir tendenziell hinter uns lokalisieren. Für das Andenvolk der Aymara liegen die Dinge genau umgekehrt: Sie blicken buchstäblich in die Vergangenheit und kehren der Zukunft den Rücken zu.  
Dieses ungewöhnliche Zeitkonzept spiegelt sich sowohl in der Sprachstruktur als auch in der Gestik des indigenen Volkes, berichtet Rafael Nunez von der University of California in San Diego. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Aymara dem direkt Beobachtbaren besondere Bedeutung zumessen - eine Kategorie, zu der die Zukunft definitionsgemäß keinen Zutritt hat.
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Die Studie "With the Future Behind Them: Convergent Evidence From Aymara Language and Gesture in the Crosslinguistic Comparison of Spatial Construals of Time" von Rafael E. Nunez
und Eve Sweetser erschien in "Cognitive Science" (Bd. 30, S. 401-450; doi: 10.1207/s15516709cog0000_62).
->   Abstract
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Herzschlag der Kultur
Beim Thema "Zeit" denkt man vermutlich zunächst an eine physikalische Kategorie, die von den Naturgesetzen bestimmt wird und daher unabhängig vom Betrachter besteht. Tut sie auch - gleichwohl ist das Thema auch für die Kulturwissenschaften interessant. Denn es ist die Kultur, die bestimmt, auf welche Weise Zeitlichkeit in die konkrete Lebenswelt integriert wird.

Und da gibt es mehr Varianten, als man erwarten würde. "Jede Kultur hat ihre eigenen, einmaligen zeitlichen Fingerabdrücke", schrieb etwa Jeremry Rifkin in seinem Buch "Uhrwerk Universum": "Ein Volk kennen heißt die Zeitwerte kennen, mit denen es lebt."

Die Mexikaner, beispielsweise, kennen zweierlei Arten von Zeit. Da ist zum einen die hora inglesa, bei der eine Stunde genau 60 Minuten hat. Mehr Verhandlungsspielraum ermöglicht hingegen die hora mexicana, bei der eine Stunde schon mal 100 Minuten und länger dauern kann.

Die hora mexicana ist daher weniger eine metrische Größe, wie ihre europäische Verwandte, sondern eher eine unverbindliche Empfehlung, die sich an den geruhsamen Herzschlag der Kultur anpasst. Sich in einer mexikanischen Stunde zu treffen, heißt: Man wird sehen, man trifft sich eben.
Zeit als räumliche Metapher
In folgender Hinsicht sind sich Mexikaner und Europäer jedoch einig: Die Zukunft ist etwas, das man als "vor uns liegend" empfindet - durchaus auch im räumlichen Sinne. Das gilt, wie der Kognitionswissenschaftler Rafael Nunez betont, offenbar für alle bisher untersuchten Sprach- und Kulturgemeinschaften dieser Welt:

"Sämtliche Sprachen - vom europäischen und polynesischen Raum bis zum Chinesischen, Japanischen und der Bantu-Sprache - charakterisieren Zeit mit räumlichen Eigenschaften. Und sie beschreiben die Zukunft als etwas, das vor dem Ich liegt, während die Vergangenheit dahinter angesiedelt ist."
Verkehrte Welt der Aymara
Beim Andenvolk der Aymara dürfte es indes umgekehrt sein, wie nun Nunez herausgefunden hat. Die Aymara sind schon länger ein beliebtes Studienobjekt für Linguisten und Ethnologen, weil sich ihre Sprache offenbar besonders für die Bildung abstrakter Konzepte eignet und eine unerschöpfliche Quelle sprachlicher Neubildungen darstellt, wie etwa kürzlich Umberto Eco betonte.

Für das Konzept der Vergangenheit verwenden die Aymara jedenfalls den Wortstamm "nayra", der auch in Wörtern wie "Auge", "vorne" und "Anblick" vorkommt. Zukünftiges wird mit "qhipa", dem Grundwort für "hinten" bzw. "zurückliegend" ausgedrückt. Der Ausdruck "nayra mara", der "letztes Jahr" bedeutet, hieße demzufolge wörtlich übersetzt: "vorderes Jahr".

Das allein beweist jedoch noch nicht, dass Zeitlichkeit im lebensweltlichen Kontext der Aymara tatsächlich - aus unserer Perspektive - "verkehrt" liegt, wie Nunez betont. Denn auch in europäischen Sprachen gebe es Formulierungen, die den Zusammenhang "Zukünftiges liegt vorne" mitunter durchbrechen. Etwa bei dem Satz: "Das Treffen wurde vorverlegt", der meist so verstanden wird, dass das Treffen näher zur Gegenwart (also Richtung Vergangenheit) gerückt wurde.
Gestik spiegelt Sprachstruktur
 
Bild: Rafael Nunez, UC San Diego

Nunez analysierte daher mit seiner Kollegin Eve Sweetser auch das gestische Repertoire von Aymara aus Nord-Chile und fand heraus, dass sie ihr Zeitkonzept tatsächlich verinnerlicht haben und in der alltäglichen Kommunikation anwenden.

Besonders die Mitglieder der älteren Generation, die kein korrektes Spanisch sprechen, begleiten Formulierungen über die Zukunft, indem sie mit dem Daumen über die Schulter zeigen. Umgekehrt zeigt eine nach vorwärts gerichtete Handbewegung Vergangenes an, wie es etwa beim Sprecher in obiger Abbildung der Fall ist.

"Dieser Fund legt nahe, dass alltägliche Abstraktionen wie etwa die Zeit zumindest teilweise kulturelle Phänomene sind", folgert Nunez: "Dass wir Zeitlichkeit entlang der Achse 'vorne-hinten' konstruieren, ist sicher durch die Art unserer Fortbewegung, unseren Körperbau und unser binokulares Sehen beeinflusst. Wären wir klumpenförmige Wesen wie etwa Amöben, hätten wir vermutlich dieses Konzept nicht entwickelt."

"Aber das Beispiel der Aymara zeigt, dass es Raum für kulturelle Variationen gibt, obwohl sie den gleichen Körper - die gleiche Neuroanatomie, die gleichen Neurotransmitter etc. - besitzen", so Nunez.
Wichtig ist, was beobachtbar ist
Warum der Strom der Zeit gerade in der Aymaraschen Kultur umgekehrt orientiert ist, können Nunez und Sweetser nur vermuten. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Aymara direkt erlebten Ereignissen einen viel größeren Stellenwert beimessen als Überlieferungen und Wissen aus zweiter Hand.

So ist etwa in ihrer Sprache ein Satz der Art "Im Jahr 1492 segelte Columbus auf dem blauen Ozean" unmöglich, sofern er nicht angibt, ob der Vorgang auch beobachtet wurde. Daher sei es durchaus folgerichtig, schreiben Nunez und Sweetser, dass die Aymara das Vergangene im Gesichtsfeld verorten. Denn Beobachtungen bezögen sich schließlich immer auf vergangene Begebenheiten.

Das deckt sich im Übrigen auch mit historischen Schilderungen: Die europäischen Eroberer beschrieben die Aymara aus ihrer kolonialistischen Perspektive als Volk, das kaum für "Zukunft" und "Fortschritt" zu begeistern sei.

Robert Czepel, science.ORF.at, 14.6.06
->   Website von Rafael Nunez
->   Aymara - Wikipedia
 
 
 
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01.01.2010