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Alpenreisen im 19. Jahrhundert  
  Das 19. Jahrhundert steht für eine zunehmende Faszination für die Berge - so etwa den Mont Blanc. Die "romantischen Alpenreisen" entpuppten sich allerdings als Kräfte raubende Unterrnehmungen.  
Wie sich die romantische Alpenreise entwickelte, berichtet der Historiker Philipp Felsch, ehemals IFK-Junior-Fellow, anlässlich einer Tagung.
Ganz unten, am Gipfel
Bild: IFK
von Philipp Felsch

Enttäuschung statt Glück, Leere statt Erfüllung, Schwindel und Schlafsucht statt siegesgewissen Blicken vom Dach der Welt: Bis heute erleben Extrem-Alpinisten den krönenden Gipfelmoment in Trance. Ganz oben ziehen sich die Sinne auf den eigenen erschöpften Körper zurück.
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Tagung
Philipp Felsch wird anlässlich der IFK-Tagung "Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800-1900" einen Vortrag über Versuche von Lebenswissenschaftlern, den homo oeconomicus auch körperlich zum Arbeitstiere zu machen, referieren.

Zeit: 22.-24. Juni 2006
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Programm (IFK)
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Schön schrecklich
Dabei ist der moderne Alpinismus aus der romantischen Alpenreise hervorgegangen, und bei Touristen wie Goethe, Shelley oder dem Maler Carus drehte sich alles um den Blick auf die Berglandschaft.

Bis ins 18. Jahrhundert hatte man allerdings "gar nicht gesehen". Winckelmann, der Klassizist, ließ 1760 noch die Fenster seiner Kutsche verhängen, um sich den schrecklichen Anblick des Gotthard zu ersparen. Erst Shelley, der Romantiker, dichtete 1816 wahnsinnig erleuchtet unter den Hängen des Mont Blanc.

In der Zwischenzeit hatte die neue Ästhetik des Erhabenen konventionalisiert, wie überwältigende Gebirgslandschaften poetisch zu bewältigen waren - wie gerade Sprachlosigkeit in Wort- und Bilderfluten umschlagen konnte.

Auch Shelley fand den Berg noch schrecklich und hätte ihn um nichts in der Welt besteigen mögen. Aber aus der sicheren Distanz des Tals heraus, das versicherte die Reiselektüre im Rucksack, ließ sich die Gletscherwelt mit gemischten Gefühlen - mit "delightful terror" - betrachten, und gerade der galt jetzt als fruchtbarstes Sentiment für Poesie und Malerei.
Goethe und Frankenstein
Auf dem Montanvert schärfte Europa seinen pittoresken Blick. Die Reiseführer empfahlen den grasbewachsenen Buckel bereits im 18. Jahrhundert als Muss jeder Schweizreise, denn die Aussicht auf den Mont Blanc war einzigartig.

Seitdem ein achteckiger "Tempel der Natur" auf dem Gipfel zu Rousseauschen Träumereien und bequemen Picknicks einlud, war die Reproduktion des Panoramas in Serie gegangen.

Goethe berichtete 1779 ausführlich an Frau von Stein. Und Napoleons Kaiserin Joséphine ließ im Sommer 1810 immerhin 68 Führer warten, um sich mit schlechten Versen im Hüttenbuch zu verewigen. Auch Victor Frankenstein wird seinen Namen hinterlassen haben.
Bitterer Champagner
Mit Horace Bénédict de Saussure, einem Genfer Professor, der den Mont Blanc zu besteigen beschloß, wurde die Erfahrung des Erhabenen 1787 zum physiologischen Ernstfall. Saussure und seine Nachfolger mußten am eigenen Leib erleben, wie ihre romantische Stimmung in Schwindel und Schlafsucht unterging, hatten sie erst die Baumgrenze passiert.

Der krönende Moment, die "raison d'être" aller Strapazen, konnte weder wissenschaftlich beobachtet noch ästhetisch genossen werden, weil die siegreichen Alpinisten in Schlaf versanken, wenn ihnen nicht Schlimmeres zustieß. Kaum geboren litt die moderne Bergtour unter einem blinden Fleck.

Während unten auf dem Montanvert die Aquarellmalerei florierte, berichteten die Pioniere des Hochgebirges, wie ihnen Hören, Sehen und Reden verging. Ihre Sprachlosigkeit war mehr als ästhetische Überwältigung; gekeuchte Worte verhallten unhörbar in der klaren Höhenluft. Nicht einmal Champagnerkorken knallten mehr, und der Champagner selbst schmeckte ekelerregend.
Magische Bilder
Damit gelangte auch die Malerei an ihr Ende. Die romantische Ikonographie der Berglandschaft verlangte, daß Schneeberge im blauen Dunst der Ferne verschwommen. "Die Kunst, wie wir sie kennen, gelangt nicht weiter als die Vegetation", befand der berühmte Kritiker Théophile Gauthier.

Wenn keine Kunst, was waren die Bilder dann, die Auguste Rosalie Bisson, "Photographe de l'Empereur", im Juli 1861 vom Gipfel des Mont Blanc mitbrachte? Der spektakuläre Mehrwert, der das Publikum begeisterte, haftete ihnen eher unsichtbar an: ein Firnis aus Kälte, Erschöpfung und Gefahr, der unvermeidlich indizierte, was der tapfere Fotograf gewagt und erlitten hatte, um die Kollodiumplatten zu belichten. Wie konnte dort eine Kamera hingelangen? Wie konnte dort ein Lichtbild entstehen?

Die Theoretiker der Fotografie versichern, ihr Medium funktioniere magisch. Als Ergebnis einer Berührung von Lichtstrahlen sei es weniger Zeichen als Teil seines Referenten und weniger Bild als Beweis. Bissons Lichtbilder bewiesen den Aufenthalt des Fotografen in Höhen, von denen schon Saussure festgestellt hatte, daß sie nicht für Menschen gemacht waren. Statt Erhabenem zeigten sie Ermüdung an.
Schreibstörungen
Während der Fotograf seine Kamera positionierte, begannen Physiologen und Mediziner, alpine Gipfelschriften zu sammeln. Die ermüdete, euphorische, überwältigte Hand schrieb zittrig und undeutlich und hinterließ eine Spur vom Körper des Bergsteigers, die der Experte zu lesen vermochte.

Ähnlich wie in der Grafologie verwandelten sich Schriftzeichen in Symptome, die ihre symbolische Bedeutung abgestreift hatten. Der diagnostische "Schreibversuch" reichte bis in die angewandte Physiologie der industriellen Moderne: in die Arbeitswissenschaft und die Flugmedizin.

Aber auch durch die Geschichte des alpinen Reisejournals selbst verläuft eine Art Baumgrenze. Wo früher Gedichte gestanden hatten, fanden sich jetzt gekrakelte Gipfelnotizen. Wo früher eine Seele zu fliegen anhob, stammelte jetzt ein Körper mit Mühe. Am Ende des 19. Jahrhundert ist das Erhabene auf eine zitternde Linie zusammengeschrumpft.

[21.6.06]
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Über den Autor
Philipp Felsch, Dr. phil., ist Historiker. Er hat am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und als IFK_Junior Fellow eine Dissertation über "Laborlandschaften. Physiologische Alpenreisen um 1900" geschrieben und arbeitet zur Zeit am Zentrum Geschichte des Wissens an der ETH Zürich.

Mit der Vergabe von Junior Fellowships fördert das IFK Dissertanten (bis zum 35. Lebensjahr) mit kulturwissenschaftlichen Projekten. IFK_Junior Fellowships werden für ein Jahr vergeben, beinhalten ein monatliches Stipendium und einen Arbeitsplatz am Institut, der den Austausch mit den Senior und Research Fellows des Instituts befördert. Junior Fellowships werden vorzugsweise an österreichische Studierende vergeben. Die nächste Ausschreibung ist im Oktober 2006.
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01.01.2010