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Die Entdeckung des Gehens als Kunstform  
  In den 1960er Jahren findet das Gehen Eingang in die performativen Künste - vom laufenden Bild hin zum gehenden Betrachter als Teil des Kunstwerks. Welche Rolle das Gehen als Kunstform zunächst spielt, beschreibt der Theaterwissenschaftler Ralph Fischer, IFK-Junior-Fellow, in einem Gastbeitrag.  
Der menschliche Gang in den performativen Künsten
Von Ralph Fischer

Am fünften Juli des Jahres 1965 ereignet sich in der Wiener Innenstadt etwas Merkwürdiges: Ein Bild geht auf die Straße und erregt großes Aufsehen. Die Polizei setzt diesem ungewöhnlichen Spaziergang schließlich ein Ende. Das wandelnde Bild wird verhaftet und bekommt eine Geldstrafe.
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Vortrag am IFK
Ralph Fischer hält am 26. Juni, 18.00 c.t. am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen öffentlichen Vortrag mit dem Titel "Schritte ins Niemandsland. Gehen als Signatur performativer Ästhetik".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Details zur Veranstaltung (IFK)
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Wiener Spaziergang
Doch was verbirgt sich hinter diesem Bild, das laufen lernte? Es ist der Aktionskünstler Günther Brus, der in seiner Aktion "Wiener Spaziergang" seinen Körper angemalt und zum lebenden Bild erklärt hat.

Vollständig mit weißer Farbe bedeckt und durch einen vertikalen, schwarzen Strich symbolisch in zwei Hälften geteilt, so wagt der Künstler den Schritt auf die Straße. Er überschreitet damit eine bedeutende Schwelle: Die Grenze zwischen Kunst und Öffentlichkeit.
Neuland betreten
Auch der britische Künstler Richard Long setzt einen wegweisenden Schritt in Richtung Gehen als Kunstform - und zwar im Jahr 1967: Beim Überqueren einer Wiese hinterlassen die Schritte des Künstlers Fußspuren im niedergedrückten Gras.

Long erkennt den ästhetischen Gehalt, der in dieser einfachen Handlung enthalten ist. Er erklärt sein Gehen und die Spur, die zurückbleibt, zur Kunst.

Damit ist seine erste Landschaftskultur "a line made by walking" entstanden und Richard Long hat ästhetisches Neuland betreten: die Möglichkeit, mit Gehen Kunst zu machen.
Gehen als Kunstform?
Richard Long ist nicht der einzige "walking artist" geblieben: Auch Künstler wie Hamish Fulton und On Kawara erklären das Gehen zur Grundlage ihrer Kunst.

Der menschliche Gang wird nicht etwa mit konventionellen bildnerischen Mitteln dargestellt, sondern performativ ausgeführt. Der Künstler nutzt den eigenen Körper als Material.

Auch das experimentelle Theater besinnt sich auf das Grundvokabular theatraler Kunst: den Bühnen-Gang.

Der japanische Regisseur Tadashi Suzuki entwickelt eine "Grammatik der Füße", um das Theater zu reformieren. Er entwickelt seine Methodik insbesondere in Bezugnahme auf Gehtechniken aus dem "Nô" und dem "Kabuki", den traditionellen Theaterformen Japans.
Blicke und Schritte
Doch nicht nur die Kunstschaffenden, sondern auch die Kunstrezipienten sollen mit dieser Entwicklung Schritt halten und sich in Bewegung setzen.

Der US-Amerikaner Bruce Nauman entwickelt Ende der sechziger Jahre installative Raumarbeiten, die nur gehend rezipiert werden können und zugleich die Dialektik von Kunstobjekt und Betrachter in Frage stellen: die Corridor Pieces.

Naumans langgezogene, schmale Korridore bestehen aus einfachen Holzwänden und sind nur dann als Kunstwerk erfahrbar, wenn sie betreten und nicht nur betrachtet werden.

Doch der Schritt in Naumans Korridor birgt Risiken und ästhetische Stolperfallen. Nauman verwendet verschiedene Materialien, wie Licht oder Schalldämmung sowie Videotechnik und Monitore, um die Wahrnehmungsgewohnheiten des Besuchers zu irritieren. Auch die Enge des Raumes kann Befremden oder sogar Angst hervorrufen.

Die Rezeption der Korridorarbeiten verlangt also eine unmittelbare, physische Auseinandersetzung. Eine distanzierte Betrachtung ist nicht möglich.
Letzter Schritt
Wieso wird das Gehen in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts als ästhetisches Beschäftigungsfeld interessant? In den Künsten zeichnet sich die Tendenz ab, nicht das Besondere zu zeigen, sondern das Vertraute - das als bekannt Geltende - ins Blickfeld zu rücken.

Das Verhältnis von Körper, Bewegung, Raum und Zeit wird zu einem wichtigen Experimentierfeld der performativen Kunst. Das Gehen, jene zumeist unbewusst getätigte Alltagshandlung, bietet die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit diesen Kategorien.

Aufgrund seiner flüchtigen Materialität, ist das Gehen, dem Wesen einer performativen Ästhetik, besonders verbunden. Einer Ästhetik, die sich von der Idee des dauerhaften Kunstwerkes abwendet und stattdessen Ereignisse hervorbringt.

Performative Ästhetik und Gehen sind Prozesse in Raum und Zeit. Entscheidend ist der nächste Schritt.

[26.6.06]
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Über den Autor
Ralph Fischer, Mag. phil., studierte Theaterwissenschaft mit den Nebenfächern Germanistik und Kunstgeschichte an der Johannes Gutenberg Universität Mainz und an der Universität Wien. Mitarbeit bei zahlreichen Theaterprojekten in den Bereichen Dramaturgie, Bühnentechnik und Schauspiel. Seit Februar 2005 Doktoratsstudium am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. 2005/2006 arbeitet er als IFK_Junior Fellow am Projekt "Walking Artists: Der menschliche Gang in den performativen Künsten".

Mit der Vergabe von Junior Fellowships fördert das IFK Dissertanten (bis zum 35. Lebensjahr) mit kulturwissenschaftlichen Projekten. IFK_Junior Fellowships werden für ein Jahr vergeben, beinhalten ein monatliches Stipendium und einen Arbeitsplatz am Institut, der den Austausch mit den Senior und Research Fellows des Instituts befördert. Junior Fellowships werden vorzugsweise an österreichische Studierende vergeben. Die nächste Ausschreibung ist im Oktober 2006.
->   Alle IFK-Beiträge in science.ORF.at
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01.01.2010